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El Silbon Zeichnung von Jeremie Michels. Das Bild zeigt einen großen Mann mit brauner Haut, der lange dünne Gliedmaßen hat. Er trägt einen großen, beigen Hut, der alt aussieht und einen tiefen Schatten in sein Gesicht wirft, ein zerissenes grau-blaues T-Shirt und einen braunen, ausgebeulten Sack auf dem Rücken. Während er pfeift, hat er den Kopf zu den Betrachtetnden gedreht und sieht sie mit seinen weiß leuchtenden Augen direkt an.
El Silbon (2022)

El Silbón – Ein Pfeifen in der Nacht

Wie bereits angekündigt, ist El Silbón mein erster Beitrag nach meiner Sommerpause. Er ist ein Wesen aus Venezuela und Kolumbien, das hauptsächlich für das Pfeifen bekannt ist, das es von sich gibt, wenn es jagt.

Und damit willkommen zurück an alle alten Leser und ein herzliches Willkommen an alle neuen! Es freut mich, dass ihr meine Geschichten lest!

Viel Spaß beim Gruseln!

Triggerwarnungen (Achtung Spoiler!)

– Sucht: Alkohol
– Erwähnung von Gewalt gegen ein Kind
– Krankheit: Demenz
– Tod

Die Geschichte:

Schwüle, drückende Hitze lag in der Luft. Obwohl ich mich kaum bewegte, lief Schweiß meinen Körper hinab. Meine Haare und mein Bart fühlten sich nass an, mein T-Shirt klebte an mir, als wolle es mich festhalten, während ich auf das kühle, verlockende Bier vor mir starrte. Ein Tropfen Kondenswasser lief an dem kalten Glas runter wie in einer x-beliebigen Getränkewerbung, als wolle das Bier mir sagen: „Trink mich!“ Dabei war die Verlockung ohnehin schon viel zu groß.

Trotzdem saß ich einfach nur da und starrte die kalte Versuchung an. Immer wieder wanderte mein Blick dabei zu der Münze, die neben dem Glas auf dem Tisch lag. ‚To Thine Own Self Be True‘ stand darauf – zu deiner selbst sei treu. Direkt darunter prangte eine römische Eins. Es war eine internationale Münze der Anonymen Alkoholiker und der Lohn dafür, dass ich seit einem Jahr trocken war. Und trotzdem saß ich jetzt hier und starrte seit fünf Minuten ein kühles Bier an.

Ich seufzte schwer. Bis letzte Woche hatte ich keinerlei Verlangen mehr nach Alkohol verspürt. Ich war trocken, auf dem richtigen Weg. Doch das alles änderte sich, als meine Mutter am Freitagabend zu mir ins Wohnzimmer kam und hysterisch zu kreischen begann, was ich, ein fremder Mann, in ihrer Wohnung machen würde. Ich konnte sie gerade noch davon abhalten, die Polizei zu rufen. Aber auch nur, weil sie mich missverstanden hatte, und dachte, dass ich ein Freund ihres Sohnes sei. Dass ich selbst ihr Sohn bin, hatte sie nicht erkannt. Dabei war es ihr die letzten Monate doch wieder so viel besser gegangen …

„Ist mit dem Bier alles in Ordnung?“, riss mich eine Stimme aus meinen Gedanken. Es war die Kellnerin. Ein junges Ding, höchstens 25. Sie hatte meine AA Münze zwar gesehen, wusste aber entweder nicht, was das ist, oder hat sie ignoriert. Hätte sich jemand in meiner Stammkneipe mit einer AA Marke auf dem Tisch ein Bier bestellt, hätte Miguel ihm ein großes Wasser gebracht und sich zu ihm gesetzt, um mit ihm zu reden. „Ernesto“, hätte er zu mir gesagt, „Du willst das doch gar nicht. Was ist los?“ Trotzdem gab das Mädchen sich alle Mühe. Auch wenn ich ihre Unsicherheit bis hierhin spürte.

„Nein. Nein, alles gut“, sagte ich schnell. Zum Beweis nahm ich das Bier in die Hand, führte es an die Lippen und nahm einen kräftigen Schluck.

Genüsslich schloss ich die Augen. Ich spürte, wie sich zusammen mit der Kälte ein angenehmes Prickeln auf meiner Zunge ausbreitete. Dann füllte das herbe, leicht bittere Aroma meinen Mund. Wie sehr ich diesen Geschmack vermisst hatte … Als ich es schließlich herunterschluckte, hatte ich sogar das Gefühl, als würde sich eine wohlige Wärme, ganz anders als die schwüle Hitze, in meiner Brust ausbreiten.

Doch so schnell, wie sie gekommen war, verschwand die Wärme auch wieder. Sie wurde von Gewissensbissen abgelöst. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Ich hatte zum ersten Mal seit über einem Jahr Alkohol getrunken. Meine AA Marke hatte ich nicht mehr verdient. Aber anstatt aufzuhören, versuchte ich diese Erkenntnis in einem weiteren Schluck Bier zu ertränken. Und in noch einem. Und noch einem. Nach wenigen Sekunden war das Glas halb leer.

Plötzlich ertönte ein Knall. Jemand hatte die Eingangstür so schwungvoll aufgeschlagen, dass der Türgriff geräuschvoll gegen den Gummistopper an der Wand geknallt war.

„… und dann hab ich sie flachgelegt. Mann hatte die geile Titten!“, waren die ersten Worte, die ich hörte.

Die Stimme gehörte zu einem jungen Mann mit protziger weißer Jacke und einem hautengen schwarzen T-Shirt. Das und das eingebildete Grinsen auf seinem Gesicht verrieten mir sofort alles, was ich über ihn wissen musste: Er hatte Geld – oder tat zumindest so – und fühlte sich, als würde die ganze Welt ihm gehören.

„Genau wie Dalia hier“, fuhr er fort und nickte der Kellnerin zu. „Die hat auch geile Titten.“

Die drei Freunde, die ihm in die Bar gefolgt waren, starrten der Kellnerin ungeniert auf selbige und grinsten breit.

Dalia, wie sie wohl hieß, gefror bei dieser Bemerkung in ihrer Bewegung und hielt ihren Blick eine Sekunde lang starr auf das Glas in ihren Händen gerichtet. Sie versuchte, es sofort zu kaschieren, indem sie das Glas weiter abtrocknete, aber ich hatte deutlich bemerkt, wie eingeschüchtert sie war.

Angewidert verzog ich das Gesicht und machte mich bereits dazu bereit, einzugreifen, als die Gruppe sich an einem der Tische niederließ. Sie beachteten Dalia nicht weiter, außer dass sie eine Runde Schnaps bestellten. Stattdessen ging der Typ mit der weißen Jacke, die er trotz der Hitze selbst an seinem Platz nicht auszog, wieder zum Prahlen über. Er erzählte von seinem gut bezahlten Job und prahlte mit dem teuren Auto, das er sich bald holen wolle. Seine Freunde klebten nahezu an seine Lippen.

Ich versuchte, seine lautstarken Angebereien so gut es geht zu überhören. Daher weiß ich auch nicht, wie es zu dem Themenwechsel kam, aber als ich gerade mein drittes Bier bestellte, ließ mich ein Name aufhorchen, den der Typ erwähnte.

„Pass lieber auf, dass du nicht zu viel trinkst, sonst holt dich El Silbón!“, sagte er zu einem seiner Freunde. Diesmal war sein Grinsen nicht belustigt oder angeberisch, sondern hinterhältig.

Ich konnte nur vermuten, dass sein Freund Angst vor Horrorgeschichten hatte. Ich kannte Typen wie ihn. Er fühlte sich bestimmt supertoll, während er ihn einschüchterte.

„El was?“, fragte ein anderer.

Anscheinend waren seine Freunde nicht von hier. Jedenfalls war das genau die Frage, auf die er gewartet hatte. „El Silbón ist ein Wesen, das ganz hier in der Nähe leben soll. Früher war es mal ein Mensch, aber das ist schon lange her.“

„Ach komm schon, Cesar. Du weißt, dass ich solche Geschichten nicht mag“, beschwerte sich der Mann, dem er die Geschichte widmete. Ich hatte also recht.

Cesar hingegen beachtete ihn gar nicht. Er fuhr einfach fort. „Es heißt, er war früher der Sohn eines Farmers gewesen, der hier ganz in der Nähe gewohnt hat. Ein verzogener Rotzbengel, dem die Eltern den Arsch abgewischt haben. Sie haben ihm alles erlaubt und alles für ihn getan. Aber eines Tages, als der Junge Fleisch essen wollte, konnte sein Vater trotz stundenlanger Suche kein Reh zum Jagen finden. Also hat der Junge kurzerhand seinen Vater ermordet, aufgeschlitzt und seiner Mutter die Innereien gebracht, damit sie daraus etwas kochen konnte.“

Ein allgemeiner Ausruf des Ekels ging durch die kleine Gruppe. Und auch die Kellnerin warf Cesar einen mahnenden Blick zu. Das war nun wirklich kein Gesprächsthema für eine Bar!

Aber wie auch schon vorher, ignorierte Cesar die Leute um sich herum und fuhr unbeirrt fort: „Die Mutter des Jungen war zwar weichgespült, aber keinesfalls dumm. Sie merkte schnell, dass etwas nicht stimmte. Also stellte sie ihn zur Rede, bis er zugab, dass es die Innereien seines Vaters waren. Sie war ’ne Frau, also hat sie das getan, was Frauen in solchen Situationen so machen: Bestimmt hat sie rumgeflennt und was weiß ich.“

Ich schnaufte verärgert. Der Typ war echt ein Ekel.

„Der Großvater, der Vater des toten Vaters, war da weniger zimperlich“, erzählte er weiter. „Er hat sich den Jungen geschnappt, ihn ausgepeitscht, Chilipulver in die blutigen Wunden gerieben und tollwütige Hunde auf ihn losgelassen, damit sie ihn bei lebendigem Leibe zerfetzen. Es heißt, dass der Junge in den Wald geflohen ist, und nie wieder gesehen wurde.

Aber seit jenem Tag lauert nachts etwas draußen auf den Straßen. Was auch immer mit dem Jungen passiert ist, es hat ihn zu einer Kreatur verzerrt, die wir unter dem Namen El Silbón kennen. Drei Meter groß mit spindeldürren Gliedmaßen. Er trägt die Kleidung, die Farmer früher getragen haben, lumpig mit einem großen Hut. Und während er durch die Nacht wandert, bereit, jeden zu töten, der ihm über den Weg läuft, trägt er einen großen Sack mit den Knochen seiner Opfer über den Rücken geworfen und pfeift unablässig diese Melodie …“

Cesar begann, sie zu pfeifen. Ton für Ton die Tonleiter hinauf.

„Aber das ist noch nicht alles. El Silbón ist hinterlistig. Er wird mit seinem Pfeifen immer leiser, je näher du ihm kommst. Du glaubst, du rennst vor ihm weg, aber in Wirklichkeit läufst du ihm direkt in die Arme. Und dann …“, er knallte seine Faust auf den Tisch, dass die Gläser klimperten, „ist es für dich zu spät. Und es heißt, dass er es hauptsächlich auf Trunkenbolde abgesehen hat. Also pass lieber auf Joel, sonst holt El Silbón heute Nacht dich!“ Cesar zeigte mit seinem Finger auf seinen Freund.

Dieser schluckte schwer und sah ihn mit großen Augen an. Man konnte dem Jungen ansehen, dass er Angst hatte. Und so sehr ich mich auch über das Benehmen der kleinen Gruppe ärgerte, konnte ich eine Sache überhaupt nicht ab: wenn angebliche Freunde einem in den Rücken fielen. Das war kein harmloser Streich. Er wollte Joel Todesangst machen.

„Ach, bleib mir weg mit solchen Geschichten!“, sagte ich laut quer durch den Raum.

Es erzielte den gewünschten Effekt. Cesar ließ von dem Jungen ab. Aber eine Sache hatte ich nicht bedacht: dass ich seine Aufmerksamkeit damit unweigerlich auf mich lenkte.

Er sah erst verwirrt zu mir rüber, als könne er nicht fassen, dass jemand die Stimme gegen ihn erhob. Dann stand er auf, zog seine weiße Jacke zurecht und kam, gefolgt von seinen Freunden, mit einem breitbeinigen Gang auf mich zu. Er reckte dabei seine Schultern möglichst weit nach außen, um größer zu wirken, aber in meinen Augen sah es einfach nur lächerlich aus.

„Was hast du gesagt, Opi?“, fragte er, als er vor mir stand.

Weil ich saß, musste ich zu ihm aufsehen. Doch bevor ich etwas erwidern konnte, fiel sein Blick auf etwas auf dem Tisch. Blitzschnell griff er danach und musterte meine AA Marke. Sein darauf folgender kritischer Blick galt meinem Bier.

„Ist die Plörre alkoholfrei? Oder bist du deswegen so schlecht auf El Silbón zu sprechen?“, fragte er, während er die Münze demonstrativ seinen Freunden hinhielt.

Ich hielt seinem Blick stand, antwortete aber nichts. Trotzdem musste irgendetwas in meinen Augen mich verraten haben.

„Ahhh. Verstehe“, sagte er und lachte dreckig. Dann hielt er die Marke seinen Freunden hin. „Das hier ist eine Münze von den Anonymen Alkoholikern. Und wenn mich nicht alles täuscht, bedeutet diese Eins, dass er seit einem Jahr trocken ist.“

Als Nächstes griff er nach meinem Bier. Ich hatte keine Lust, die Situation noch weiter zu verschärfen, also ließ ich es geschehen.

Demonstrativ hielt er es hoch. „Sieht das für euch aus, als wäre er trocken?“, fragte er seine Freunde.

Sie alle verneinten, der eine mehr, der andere weniger enthusiastisch, aber das schien Cesar nicht zu stören.

Doch dann tat er etwas, das ich niemals vorausgesehen hätte. Er stellte das Bier zurück auf den Tisch und sagte an Dalia gewandt: „Noch ein Bier für unseren Freund hier. Ein großes.“

Ein Jubeln brach in der kleinen Gruppe aus. Es war ein spöttisches Gebrüll. Aber während seine Freunde seine Aktion noch feierten, stützte er sich plötzlich mit beiden Händen auf den Tisch und beugte sich zu mir vor. „Pass lieber auf“, sagte er leise. So leise, dass ich nicht sicher war, ob die anderen ihn überhaupt verstanden. „Sonst kommt El Silbón dich holen.“

Stille erfüllte die Bar. Cesars Freunde, die eben noch so laut gebrüllt hatten, sagten keinen Mucks mehr – wahrscheinlich weil sie angestrengt lauschten. Es kam mir fast vor, als hätte Cesar die Zeit angehalten. Ich schluckte schwer.

Dann brach er in schallendes Gelächter aus. Es war dreckig und hässlich, wie seine ganze Art. Seine Freunde stimmten sofort mit ein. Jetzt wurde es mir zu blöd. Noch während seine Freunde ihm auf den Rücken klopften, als wollten sie ihm für seinen großartigen Scherz gratulieren, hievte ich mich hoch. Ich war so durchgeschwitzt, dass der Stoff meiner Hose und meines T-Shirts an dem Barstuhl klebte und sich nur mit einem schmatzenden Geräusch löste.

Ich drängelte mich an den jungen Männern vorbei. Beim Bartresen angekommen, legte ich Dalia ihr Geld inklusive eines saftigen Trinkgeldes auf den Tisch. Sie warf mir einen entschuldigenden Blick zu. Dabei fühlte ich mich, als hätte viel eher ich mich bei ihr entschuldigen müssen, dafür, dass ich sie mit diesen Männern allein ließ. Ich konnte einfach gehen, aber sie musste mit Pech die ganze Nacht mit diesen Saftsäcken aushalten.

Sie feierten einander, als ich mich der Tür näherten, fühlten sich wohl toll, weil sie mir den Abend versaut hatten. Zu ihrem Pech hatte ich das allerdings schon lange selbst geschafft, in genau dem Moment, als ich das erste Bier bestellt hatte. Auch ärgerte ich mich darüber, dass ich den Alkohol schon deutlich spürte, obwohl ich gerade mal zweieinhalb Bier getrunken hatte – und dass mir der leichte Rausch gefiel.

Als ich die Tür öffnete, hörte ich Cesar noch rufen: „El Silbón schlitzt Alkis wie dich auf, genau wie er es damals bei seinem lieben Papi gemacht hat!“

Dann war ich endlich an der frischen Luft. Aber wenn ich darauf hoffte, dass die kühle Nachtluft meinem Kreislauf half, hatte ich mich geschnitten. Hier draußen war es genauso schwül und drückend wie in der Bar. Es gab nicht einmal eine laue Brise.

Ich machte mich sofort auf den Heimweg. Mamá saß um diese Uhrzeit wahrscheinlich vorm Fernseher und sah eine Telenovela. Trotzdem bekam ich Gewissensbisse, dass ich sie so lange allein gelassen hatte.

So setzte ich Fuß vor Fuß, als auf einmal ein Pfeifen meine Ohren erreichte. Das Geräusch trieb mir einen Schauer über den Rücken. Die warme Luft kam mir plötzlich unglaublich kalt vor. Dabei glaubte ich nicht an El Silbón. Und trotzdem war da jetzt dieses Geräusch, das mit jedem Pfiff die Tonleiter erklomm. Genau wie in den Legenden.

Unruhig sah ich mich um. Ich spähte in die schmale Gasse, die in der Wand aus Häusern zu meiner Linken war, dann die Straße entlang und schließlich auf die andere Straßenseite. Dort stand ein Zaun, hinter dem man einige Bäume erkennen konnte, aber für mehr reichte das Licht nicht aus. Trotzdem, wenn hier draußen wirklich etwas war, war es vielleicht noch weit genug weg, sodass ich es zurück in die Bar schaffen würde. Ich müsste es nur um die Ecke schaffen und …

Das Pfeifen brach plötzlich ab und wich lautem Gelächter. Ich erkannte es sofort wieder … Cesar und seine kleine Truppe.

„Ihr seid weder besonders lustig noch originell!“, rief ich in die Richtung, aus der die Stimmen kamen.

Noch mehr Gelächter.

Ich überlegte, ob ich sie ignorieren und weitergehen sollte, aber so leicht wollte ich mich nicht geschlagen geben. „Und wisst ihr was?“, brüllte ich. „Wenn jemand Angst vor El Silbón haben muss, dann ihr! Noch mehr als Trinker hasst er nämlich Männer, die Frauen schlecht behandeln!“

Das stimmte so nicht ganz – soweit ich wusste, hasste El Silbón sie gleichdoll –, aber es erzielte seinen gewünschten Effekt. Eine der vier Stimmen brach abrupt ab. Ich tippte auf Joel, oder wie er hieß.

Kurz darauf verstummten auch die anderen und es entstand eine leise Diskussion, bei der ich nicht viel mehr als das Wort „Feigling“ verstand. Trotzdem ging ich mit einem zufriedenen Grinsen weiter. Wenn ich dafür gesorgt hatte, dass auch nur einer der Typen Dalia heute Abend respektvoll behandelte, war das zumindest ein kleiner Erfolg.

Anschließend geschah bis auf das entfernte Gebell eines Hundes, das gelegentliche Zirpen von Insekten und dem Knirschen meiner Schuhe auf dem Bürgersteig eine ganze Weile nichts mehr, sodass ich bald wieder in Gedanken über Mamá verfiel. Würde sie mich erkennen, wenn ich gleich zu Hause war? Was sollte ich sagen, wenn sie es nicht tat?

Plötzlich zerschnitt wieder ein Pfeifen die Luft. ‚C D E F G A H C‘, pfiff es die Tonleiter hinauf.

Irritiert blieb ich stehen und drehte mich um. Ich konnte niemanden erkennen, aber das war mir egal. Eine plötzliche Wut stieg in mir auf. Konnten sie mich nicht einfach in Ruhe lassen?!

„Es ist ja schön und gut, dass ihr einen lustigen Abend habt!“, schrie ich aus voller Lunge. „Aber langsam ist es echt nicht mehr witzig! Es ist mir egal, ob eure Eltern euch nicht geliebt haben oder ob ihr als Kind zu heiß gebadet wurdet. Wenn ihr mich weiter verfolgt, rufe ich die Polizei!“

Normalerweise hätte ich gedacht, dass solch eine Drohung ins Schwarze treffen würde. Aber sie beachteten mich gar nicht. Das Pfeifen ging fröhlich weiter.

Ich schnaubte verächtlich. Aber was blieb mir anderes übrig, als weiterzugehen? Immerhin konnte ich nicht wirklich die Polizei rufen, nur weil jemand am Pfeifen war.

Wenigstens verfolgten sie mich nicht weiter. Mit jedem schnellen Schritt, den ich tat, wurde das Pfeifen leiser und leiser. Ich bog in eine Straße, die nur sehr unregelmäßig von Straßenlaternen beleuchtet war. Jetzt war ich fast zuhause. Hier hatte ich einen Heimvorteil. Ich kannte diese Straßen wie die Böden der Gläser in meiner Stammkneipe. Selbst, wenn die Gruppe mich noch verfolgen würde, könnte ich sie hier problemlos abschütteln.

Also ging ich unbeirrt weiter, setzte so schnell, dass ich mich in meinem etwas unsicheren Gang noch sicher fühlte, einen Fuß vor den anderen. Das Pfeifen war inzwischen kaum noch zu hören.

Dann sah ich jedoch eine Bewegung vor mir und blieb so abrupt stehen, als wäre ich gegen eine Wand gelaufen. Da war ein Schatten, mitten auf der Straße, genau zwischen den Straßenlaternen, sodass ich ihn nur erkennen konnte, weil ich das Licht hinter ihm nicht sah. Und er bewegte sich. Zuerst dachte ich noch, es wäre irgendein Tier, aber als er sich langsam aufrichtete, sah ich, dass er zu groß für ein Tier war. Zu groß für einen Menschen.

Verwirrt taumelte ich zurück, während er mit großen Schritten auf mich zukam. Jetzt hatte er die Straßenlaterne zwischen uns erreicht. Zwar konnte ich sein Gesicht nicht erkennen – sein breiter Hut warf zu tiefe Schatten –, aber die lumpige Kleidung, die dürren Arme und Beine, der große Sack auf seinem Rücken und die schiere Größe der Kreatur ließen keine Zweifel offen: Es war El Silbón. Leise, sodass ich sie kaum noch hören konnte, pfiff er seine Melodie des Todes.

Ehe ich wusste, was ich tat, war ich auf die Knie gefallen. Tränen liefen meine Wangen hinab. „Bitte. Bitte, ich wollte das nicht“, flehte ich. „Ich wollte nicht trinken. Aber ich habe keinen anderen Ausweg mehr gesehen. Es geht meiner Mamá nicht gut. Ich bin doch der Einzige, der sich um sie kümmert!“

Aber El Silbón ließ nicht mit sich reden. Er kam weiter auf mich zu. Als er mich fast erreicht hatte, schloss ich die Augen und betete. Auch wenn ich wusste, dass es nichts bringen würde, flehte ich Gott und Jesus an, dass sie mir helfen mögen, dass El Silbón mich verschonen möge.

Zu meinem leisen Schluchzen gesellte sich nun das Gebell eines entfernten Hundes. Ich wusste nicht, ob es derselbe Hund war, den ich auch vorhin gehört hatte, aber ich war mir sicher, dass es eines der letzten Geräusche sein würde, das ich hörte. Inzwischen hatte El Silbón mit seinem Pfeifen aufgehört. Jeden Moment würde er mich mit irgendetwas niederschlagen. Er würde mich aufschlitzen oder mir die Gliedmaßen ausreißen.

Während ich am Boden kauerte und mir die schlimmsten Dinge ausmalte, geschah … nichts. Erst dachte ich, die Sekunden würden sich bloß ewig anfühlen, El Silbóns große, dürre Hand würde mich jeden Moment packen, aber als ich schließlich aufsah, war die Straße leer.

Verwirrt drehte ich mich um, ließ mich auf mein Gesäß fallen und starrte in die andere Richtung. Nichts. Da waren Straßenlaternen, die sandigen Gehwege, die schmutzige, schmale Straße und einige wenige Häuser. Aber ein großer, menschlicher Schatten war nirgends zu sehen.

Meine Begegnung mit El Silbón ist inzwischen fast fünf Jahre her. Trotzdem hat sie mich nie wirklich losgelassen und es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht daran denke. Was hat mich damals gerettet? Hatte er mir eine zweite Chance gewährt? War es vielleicht Gottes Werk? Oder war es das Hundegebell, vor dem El Silbón angeblich solche Angst haben soll, weil sein Großvater damals seine Hunde auf ihn gehetzt hat?

Was es auch war, ich hatte mir an jenem Abend geschworen, nie wieder auch nur einen Tropfen Alkohol zu trinken. Einen Schwur, an den ich mich bis heute gehalten habe.

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Die Legende:

El Silbón (spanisch für „Der Pfeifer“) ist eine venezolanische und kolumbianische urbane Legende. Sie handelt von einem Wesen, dessen Pfeifen nachts den Tod ankündigt.

Entstehung:

Der Legende nach war El Silbón früher einmal ein Mensch. Wie bei den meisten Legenden unterscheidet sich seine Hintergrundgeschichte oft von Erzählung zu Erzählung, generell lässt sie sich aber fast immer in eine von zwei unterschiedlichen Varianten einordnen.

Variante 1:

In der einen Variante war El Silbón früher ein Farmer, der zusammen mit seiner geliebten Frau, seinem Vater und seinem Großvater – in einigen Erzählungen auch seinem Schwiegervater und dessen Vater – in einem Haus gelebt hat.

Als er eines Tages ins Haus zurückkam, bekam er mit, wie sein Vater seine Frau entweder schlug oder als Hure beleidigte. In manchen Versionen fand er sogar ihre Leiche, nachdem sein Vater sie ermordet hatte.

Daraufhin entbrannte ein heftiger Streit, bei dem er seinen Vater schließlich umbrachte. Sein Großvater bekam es mit und entschied daraufhin voller Wut und Trauer, seinen Enkel zu bestrafen. Er fesselte ihn an einen Pfahl oder Baum und peitschte ihn aus, bis er unzählige tiefe und blutige Wunden im Rücken hatte. Anschließend rieb er Chilipulver – in einigen Erzählungen auch Salz oder Alkohol – in die Wunden, löste die Fesseln wieder und ließ einen oder mehrere aggressive Hunde auf den Mann los.

Während die Tiere ihn in den Wald jagten, rief der Großvater ihm nach, dass er ihn verfluche. Er solle niemals seine Ruhe finden.

Das war das letzte Mal, dass jemand den Mann gesehen haben soll. Seit jenem Tag soll El Silbón durch das Land ziehen.

Variante 2:

In der anderen Variante war El Silbón kein erwachsener Mann, sondern ein verwöhnter Junge. Seine Eltern konnten ihm nie etwas abschlagen und ließen ihm alles durchgehen. Daher wurde er schnell zu einem verzogenen, undankbaren Kind.

Eines Tages soll der Junge seinen Vater aufgefordert haben, für ihn ein Reh zu jagen, da er Appetit auf Eingeweide habe. Der Vater kam der Bitte seines Sohnes natürlich sofort nach und begab sich auf die Jagd. Aber selbst nach stundenlanger Suche konnte er kein Reh finden. Schließlich kehrte er mit leeren Händen nach Hause zurück.

Der Sohn, der es nicht gewohnt war, seinen Willen nicht zu bekommen, geriet daraufhin so in Rage, dass er seinen Vater kurzerhand mit dem Jagdmesser niederstach. Als er tot vor ihm lag, zeigte der Junge jedoch keinerlei Reue. Ganz im Gegenteil: Es heißt, dass er seinen Vater ausgeweidet haben soll. Anschließend brachte er die Eingeweide zu seiner Mutter, damit sie sie zubereiten konnte.

Seine Mutter merkte jedoch schnell, dass etwas nicht stimmte. Sie stellte ihn zur Rede, woraufhin er zugab, dass es die Innereien seines Vaters sind. Sie war natürlich völlig entsetzt, wusste nicht, wie sie reagieren soll. Sein Großvater jedoch – der Vater seines Vaters –, der mitbekommen hatte, was geschehen war, war rasend vor Wut.

Ab hier sind die beiden Varianten identisch: Er peitschte seinen Enkel aus, rieb ihm Chilipulver in die Wunden, ließ Hunde auf ihn los und trieb ihn in den Wald, während er ihn verfluchte.

Aussehen:

Nicht viele Leute sollen eine Begegnung mit El Silbón überlebt haben. Die wenigen, die davon berichten konnten, beschreiben sein Aussehen aber alle ähnlich:

Er sieht aus, wie ein dünner, sehr großer Mann. Die Beschreibungen reichen von einem großgewachsenen Mann bis hin zu Erzählungen, dass er 3 bis 6 Meter groß sei.

Besonders auffällig sind außerdem sein breitkrempiger Hut, wie ihn Farmer in der Region früher oft getragen haben, und der große Sack, den er sich über den Rücken geworfen hat.

Seine restliche Kleidung wird als typische Farmerkleidung des letzten oder vorletzten Jahrhunderts beschrieben und soll laut einigen Erzählungen stark abgenutzt oder lumpig aussehen.

Eigenschaften:

Wie der Name schon sagt, ist El Silbón unter anderem für sein Pfeifen bekannt. Mit scharfen Tönen soll er wieder und wieder die Tonleiter (C D E F G A H C) pfeifen, während er nachts durch die Gegend zieht, um sein nächstes Opfer zu suchen. Besonders aktiv soll er während der Regenzeit sein, die ihren Höhepunkt im Juli und August hat.

Hauptsächlich abgesehen hat er es auf Trunkenbolde, Frauenhelden oder Männer, die ihre Frauen schlecht behandeln oder ihrer Partnerin fremdgehen. Aber auch jede andere Person kann zu seinem Opfer werden, wenn sie zur falschen Zeit am falschen Ort ist.

Sein Pfeifen kündigt ihn jedoch nicht nur an, er nutzt es auch zur Jagd. Wie auch einige Wesen aus anderen Legenden – z. B. die philippinischen Tikwi – täuscht auch er seine Opfer mit der Lautstärke. Wenn sein Pfeifen sehr laut klingt, als wäre er ganz in der Nähe, ist El Silbón in Wirklichkeit noch weit entfernt. Je näher man ihm jedoch kommt, desto leiser wird sein Pfeifen. Man hat also das Gefühl, als würde man vor ihm wegrennen, während man in Wirklichkeit genau auf ihn zu rennt.

Was genau El Silbón mit seinen Opfern macht, ist hingegen umstritten. Fest steht, dass er sie umbringt. Wie genau er dabei vorgeht, weiß jedoch niemand – oder aber er hat keine feste Vorgehensweise.

Während er Betrunkene zu Boden wirft, um ihnen den Alkohol und das Blut durch ihren Bauchnabel aus dem Körper zu saugen, reißt er Frauenhelden oft in Stücke. Andere Leute werden erschlagen oder es ist gänzlich unbekannt, wie sie gestorben sind.

Worin sich die meisten jedoch einig sind, ist, dass er die Knochen seiner Opfer in den Sack auf seinem Rücken steckt. In besagtem Sack sollen übrigens auch die Überreste seines Vaters – seines ersten Opfers – liegen.

Wenn seine Opfer nicht auf offener Straße, sondern in ihrem Haus sind, hat er hingegen eine andere Vorgehensweise: Er kippt den Inhalt seines Beutels auf die Türschwelle, wo er laut Knochen für Knochen zählt. Schafft man es nicht, ihn zu vertreiben, oder hört ihm nicht beim Zählen zu, soll ein Familienmitglied oder ein Bewohner des Hauses bei Morgengrauen sterben, woraufhin er die Knochen seines neuen Opfers zu den anderen Knochen in seinem Beutel wirft.

Aber auch wenn El Silbón ein übernatürliches Wesen mit wahrscheinlich übermenschlichen Kräften ist, kann man sich gegen ihn gut verteidigen. So soll es reichen, wenn man einen Hund, Chilischoten oder eine Peitsche dabeihat – alles drei Dinge, vor denen er wegen seiner Vorgeschichte Angst hat. Auch das bloße Gebell von Hunden kann helfen, um ihn zu vertreiben.

Lebensraum/Vorkommen:

El Silbón wird hauptsächlich in Venezuela und Kolumbien gesichtet und gehört. Am häufigsten begegnet man ihm angeblich in den Llanos, den Feuchtsavannen Venezuelas und Kolumbiens, wo er früher gelebt haben soll.

Ursprung:

Die Legende von El Silbón soll Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden sein.

Angeblich basiert sie auf einem realen Mordfall aus den 1850er Jahren. Ich habe in mehreren Quellen den Namen Joaquin Flores als den Namen des Mörders gefunden, jedoch weder Näheres über ihn noch den angeblichen Mord herausfinden können.

Ich weiß nur, dass El Silbón eine in Venezuela und Kolumbien weit verbreitete Legende ist. Es gibt viele Menschen in der Region, die ihn bereits gehört oder gesehen haben wollen. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum auch heute noch viele Menschen, die in den Llanos leben, Angst vor ihm haben.

Wie findet ihr El Silbón? Hättet ihr Angst, wenn ihr in Kolumbien oder Venezuela wärt und nachts plötzlich ein Pfeifen hört? Wie würdet ihr reagieren? Schreibt es in die Kommentare!

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13 Kommentare

  1. L1n4 schreibt:

    Wie immer super Geschichte.
    Ich habe irgendwie auch erwartet, dass er stirbt XD. Das war auch die allererste Legende, die Ich schon kannte. 😀

    • Jeremie Michels schreibt:

      Danke! 😄

      Wirklich die allererste? *schielt unauffällig zu Slenderman* Wie kanntest du El Silbón denn? Also welche der beiden Varianten? 😁
      (Oder kanntest du nur die urbane Legende, nicht aber die Hintergrundgeschichte? 🤔)

      • L1n4 schreibt:

        Also Slenderman, hatte ich immer gehört, aber ich wusste nie den Hintergrund.
        Ich kannte die Zweite Variante, aber woher weiß ich nicht. Ich habe es irgendwo gehört oder gelesen.

    • Jeremie Michels schreibt:

      Danke. ^^

      Ich versuche natürlich immer, die Geschichten nicht zu ähnlich zu schreiben, auch wenn sich die Legenden gerne mal inhaltlich überschneiden. Was genau fandest du denn so „anders“ an meiner El Silbón Geschichte? 🤔

      • Rabbat07 schreibt:

        Ich weiß nicht wie ich es beschreiben soll aber ich hatte ein anderes Gefühl beim lesen. Sonst dachte ich dabei immer an Dunkelheit diesmal war es irgendwie ,,hell“

  2. Stocki schreibt:

    Wie jedes andere mal auch: geniale Geschichte! Aber mich wundert es tatsächlich, dass Cesar anscheinend überlebt hat, ich war mir eigentlich von Anfang an sicher, dass er draufgehen würde xD

    • Jeremie Michels schreibt:

      Vielen Dank! 😀

      Aber jaaa, so wie die netten und sympathischen Charaktere nicht immer überleben, sterben auch die schlechten nicht immer. Genau wie im echten Leben. ^^‘
      (Auch wenn ich es anfangs defintiv geplant hatte, aber … 🤫)

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