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Die Mittagsfrau Zeichnung von Jeremie Michels. Das Bild zeigt zwei Personen, die auf einem endlos aussehenden Getreidefeld stehen. Auf der linken Seite steht ein Junge mit mittellangen braunen Haaren, grünem T-Shirt und blauer Hose. Er hat den Mund zu einem Schrei geöffnet und abwehrend die Arme erhoben. Vor ihm steht eine große blonde Frau, die komplett in weiß gekleidet ist. Sie sieht abgemagert aus, trägt ein langes Kleid, ein altertümliches Kopftuch, hat wirres Haar und hält eine rostige Sichel in der Hand, die sie in einer fast unnatürlichen Haltung zum Schlag erhoben hat, während sie den Jungen wütend anstarrt.
Die Mittagsfrau (2023)

Die Mittagsfrau – Sie wartet auf dem Feld!

Heute habe ich einen Beitrag über die Mittagsfrau für euch. Es ist eine slawische, zu kleinen Teilen aber auch deutsche Legende über eine Art Korndämon, der manchmal mit der deutschen Roggenmuhme verwechselt wird. Dabei haben die beiden Wesen nur wenige Gemeinsamkeiten. Ich möchte an dieser Stelle aber nicht zu viel verraten.

Außerdem muss ich euch leider mitteilen, dass übernächste Woche kein neuer Beitrag kommt. Der nächste Beitrag kommt also erst am 12.06.2023 bzw. für Patrons am 05.06.2023.

Viel Spaß beim Gruseln!

Die Geschichte:

„Andreas, nicht so schnell!“, sagte Bjarne hinter mir.

Ich drehte mich um. Als ich sah, dass ich meinen Freunden ein gutes Stück voraus war, blieb ich stehen, bis sie mich eingeholt hatten. In der Zwischenzeit fächerte ich mir Luft mit der Hand zu.

Es war ein heißer Sommertag. Einer dieser heißen Sommertage, an denen man am liebsten den ganzen Tag im Freibad verbringen und sich nur von Eis ernähren würde.

Zumindest einen Teil davon hatten wir uns fest vorgenommen. Ich hatte mich direkt heute Morgen mit Karin und Bjarne getroffen. Wir waren gemeinsam ins örtliche Freibad gefahren, wo wir drei Tageskarten geholt hatten.

Lediglich zum Mittagessen, meine Mutter hat meine Freunde zu uns eingeladen, mussten wir wieder zuhause sein. Also schoben wir mit feuchten Haaren, nassen Badesachen und einem Geruch nach Chlor unsere Fahrräder schweigend die Straße zwischen den Feldern entlang.

Wind gab es fast keinen. Obwohl die Getreideähren – Gerste, wie ich neulich bei einem Schulausflug gelernt hatte – ab und an sanft hin und her wogen, kam von der angenehmen Brise nichts bei uns an.

Ich warf meinem Fahrrad einen flüchtigen Blick zu. Allein der Gedanke, darauf zu fahren, brachte meine Schweißporen zum Arbeiten. Auch wenn ich bestimmt schon zwei Liter Wasser getrunken hatte, würde ich wahrscheinlich augenblicklich tot umfallen, wenn ich auch nur einmal in die Pedale treten müsste.

Also schoben wir unsere Fahrräder gemächlich neben uns her, während wir versuchten, unter den Bäumen am Straßenrand schützenden Schatten zu finden. Mehr als einmal hatte ich mich bereits gefragt, warum wir die Fahrräder nicht beim Freibad gelassen hatten. Immerhin wollten wir nach dem Essen eh so schnell wie möglich wieder ins kalte Nass springen. Wir hätten unsere Fahrräder heute Abend mit nach Hause nehmen können.

Unsere Tageskarten wollten wir jedenfalls voll ausnutzen. Zumindest war das der Plan gewesen. Aber wie das Leben es so wollte, durchkreuzte das Schicksal gerne solche Pläne.

Die Planänderung kam in Form eines alten Mannes auf uns zu, der ein offenes Hawaiihemd, eine kurze Hose, Sandalen und durchgeschwitzte Tennissocken trug. Er schwankte leicht, als sei er betrunken.

Meine Freunde und ich machten bereits einen Bogen um ihn, wechselten extra die Straßenseite, doch der Mann schien entschlossen, uns abzufangen. Zumindest kam er weiter auf uns zu.

„He! Ihr!“, rief er mit kratziger Stimme. Entweder war er heiser oder sein Hals völlig ausgetrocknet. „Wartet mal!“

„Wir ha’m kein Geld“, erwiderte Bjarne sofort.

„Genau. Das haben wir alles für Freibadkarten und Eis ausgegeben“, bestätigte Karin. Sie sagte das völlig ernst, auch wenn wir noch mehr als genug Geld für weiteres Eis in unserem Rucksack hatten.

Der Mann hingegen winkte ab. „Ich will euer Geld nicht“, krächzte er ruhig. „Ich will euch nur warnen. Um diese Uhrzeit treibt die Mittagsfrau ihr Unwesen. Egal, was ihr tut, ihr dürft nicht aufs Feld gehen. Auch nicht, falls es eine Abkürzung sein sollte.“

Karin, Bjarne und ich warfen einander fragende Blicke zu.

Bjarne fand als Erster die Worte wieder. „Die Mittagsfrau?“, fragte er. „Wenn eine schöne Frau was von mir will, sag ich doch nicht nein!“ Er grinste den Mann schamlos an.

Der Mann hingegen kam einen Schritt näher. Jetzt erkannte ich den Schweiß, der sich tropfenweise in seinen grauen Haaren, seinem Bart und sogar seinen Brusthaaren gesammelt hatte. Ich versuchte, nicht zu genau hinzusehen, bemerkte aber trotzdem den Sonnenbrand auf seiner Brust und in seinem Gesicht.

„Ich mein es ernst, Junge!“, rief er plötzlich laut. „Wenn ihr aufs Feld geht, wird die Mittagsfrau euch töten! Ihr müsst mir versprechen, dass ihr auf der Straße bleibt!“

Von seinem plötzlichen Ausbruch völlig überrumpelt, starrte ich den Mann sprachlos an. Und auch Karin und Bjarne fanden keine Worte.

„Versprecht es mir!“, forderte der Mann erneut.

Da keiner meiner Freunde sich zu trauen schien, ergriff ich das Wort. „Ja. Klar. Wir versprechen es. Wir müssen sowieso geradeaus.“

Jetzt starrte der Mann mich an. Sein linkes Auge zuckte nervös. Es wirkte so, als dachte er nach. Jedenfalls dauerte es einige Sekunden, bis er endlich wieder etwas sagte. Er sprach jetzt wieder ruhiger. „Und der Rest? Versprecht ihr es auch?“, fragte er.

Karin nickte, während Bjarne ein fast schuldbewusstes „Ja“ nuschelte.

Noch einmal musterte der Mann uns. Dann drehte er sich weg und ging weiter seines Weges, als sei nie etwas gewesen.

Wir sahen ihm mit offenen Mündern nach. Halb eingeschüchtert, halb verwirrt sah ich Bjarne und Karin an. Plötzlich brach Karin in schallendes Gelächter aus. Es dauerte nicht lange, bis Bjarne und ich uns anschlossen. Wir lachten, als hätten wir ewig nichts so Lustiges erlebt.

„Was war das denn für ein Vogel?“, fragte Bjarne, als er sich weit genug beruhigt hatte. Dann äffte er die kratzige Stimme nach. „Nehmt euch in Acht vor der Mittagsfrau!“

„Mittagsfrau. Was ist das überhaupt für ein Name?“, warf Karin ein. „Was Kreativeres ist ihm wohl nicht eingefallen.“

Ich sah sie überrascht an. „Moment. Ihr kennt die Mittagsfrau nicht?“, fragte ich.

„Was? Nein“, meinte Karin.

„Du veräppelst uns“, sagte Bjarne. „Die gibt’s wirklich?“

Ich nickte. „Meine Mama hat mir als Kind manchmal ein Märchen über sie erzählt. Hauptsächlich, wenn ich mich nicht an das gehalten habe, was sie gesagt hat. Die Mittagsfrau ist ein Wesen, das nur in der Mittagshitze zwischen zwölf und ein Uhr auftaucht. Sie erscheint jedem, der es wagt, allein auf ein Feld zu gehen.“

Ich machte eine Spannungspause.

„Und dann?“, drängte Bjarne. „Was macht sie mit einem?“

Ich grinste. „Sie köpft ihre Opfer mit ihrer Sichel.“

Karin machte große Augen. „Und so eine Scheiße hat deine Mutter dir als Kind erzählt!?“

„Nein“, gestand ich. „Sie hat mir nur erzählt, dass die Mittagsfrau ihre Opfer angreift. Bei ihrer Geschichte ging es vielmehr um ein Mädchen, dass der Mittagsfrau entkommen konnte. Sie greift nämlich nicht an, wenn man sie in ein Gespräch über Feldarbeit verwickeln kann. Das Mädchen hat eine Stunde lang mit der Frau nur über die Flachsernte geredet, bis die Mittagsfrau um ein Uhr verschwunden ist.“

„Und das hat funktioniert?“, fragte sie überrascht. „Als Erziehungsmaßnahme deiner Mutter, meine ich?“

Ich nickte. „Ja, sie hat mir gesagt, dass ich eine Stunde lang nur über langweilige Dinge reden müsste, ohne das Thema wechseln zu dürfen. Um mir zu beweisen, wie langweilig das ist, hat sie einmal angefangen, mit mir über Kartoffeln zu reden. Ich hatte keine zehn Minuten durchgehalten.“

Karin schmunzelte, während Bjarne wieder sein schamloses Grinsen aufsetzte.

„Du und deine Mutter, ihr seid manchmal echt bescheuert!“, sagte er.

Ich sah ihn gespielt entsetzt an. „Wie? Ihr glaubt nicht an die Mittagsfrau?“, fragte ich dramatisch. „Das solltet ihr.“

Bjarne rollte sofort mit den Augen. Seit wir Halloween von 2018 gesehen hatten, zitierte ich die Szene viel zu häufig.

Jetzt grinste ich ihn blöd an. „Aber wenn du mir nicht glaubst, geh doch raus ins Feld. Du wolltest die Mittagsfrau doch kennenlernen. Wie meintest du? Da sagst du nicht nein!“

„Ja, klar“, erwiderte er. „Ich lauf schnell raus in die pralle Sonne. Mir ist ja noch nicht heiß genug.“ Zur Verdeutlichung zog er mehrmals an seinem T-Shirt, um sich Luft zuzuwedeln.

„Awww! Hast du etwa Angst?“, drängte ich ihn. Ich wusste nicht, wieso ich es tat. Vielleicht lag es an der Pubertät. Vielleicht auch an der Hitze, die mir langsam zu Kopf stieg.

Bjarne schnaubte verächtlich. „Ich hab keine Angst. Ich hab nur keinen Bock auf einen Sonnenstich. Aber wenn du schon so große Töne spuckst, geh du doch! Oder hast du Angst?“

Das saß. Als Kind hatte ich tatsächlich Angst vor der Mittagsfrau gehabt. Besonders, nachdem ich rausgefunden hatte, dass sie ihre Opfer köpft. Aber jetzt war ich älter. Ich glaubte nicht mehr an Geister und Spukgestalten. Und selbst falls noch ein klitzekleines bisschen Restangst aus meiner Kindheit übriggeblieben wäre, würde ich das meinen Freunden ganz bestimmt nicht zeigen!

„Gut“, sagte ich, während ich mein Fahrrad abstellte. „Ich gehe. Wie weit soll ich raus?“

„Jungs, lasst den Quatsch. Wir sind fast da“, warf Karin ein. Wir ignorierten sie.

„50 Schritte. Normalgroße, nicht so ein Babykram“, forderte Bjarne.

„Abgemacht“, erwiderte ich. Ich ging sofort los.

„Andreas, jetzt bleib schon hier!“, forderte Karin.

„Ach. Die paar Sekunden Sonne werden mir schon nichts anhaben. Das heißt … solange die Mittagsfrau nicht auftaucht.“ Ich zwinkerte ihr zu, ehe ich begann, ins Feld zu waten.

Sobald ich aus dem Schatten der Bäume trat, fühlte ich mich, als wäre ich gegen eine Wand gelaufen. Die Hitze war erdrückend. Ich versuchte, es zu ignorieren. Stattdessen konzentrierte ich mich auf meine Schritte.

Sieben, acht, neun, zehn Schritte.

Die Gerste, die mir bis über die Knie reichte, war schon fast ausgewachsen. Sie war zwar noch immer grünlich, hatte aber schon voll ausgebildete Köpfe mit kratzigen Härchen, die mich an den Beinen kitzelten.

Zwanzig Schritte.

Irgendwo in den Pflanzen hockten Insekten. Ich konnte sie zwar nicht sehen, aber dafür umso deutlicher hören, wie sie mich mit ihrem Gesang anfeuerten.

Dreißig Schritte.

Während ich weiter durch das Feld ging, wanderten meine Gedanken zurück zur Mittagsfrau. Ich wollte es gar nicht, aber mein Kopf wollte mir nicht gehorchen. Ich erinnerte mich daran, wie ich sie mir als Kind immer vorgestellt hatte. In den Geschichten meiner Mutter war sie eine große, in weiß gekleidete Frau. Ich hatte sie mir immer wie ein gruseliges Gespenst vorgestellt.

Vierzig Schritte.

Und als ich dann erfuhr, dass sie eine Sichel bei sich tragen soll, mit der sie Menschen köpft, war der Stoff meiner Kindheitsalbträume geboren. Inzwischen hatte ich das natürlich überwunden. Ich hatte schon seit Jahre nicht mehr von ihr geträumt.

Fünfzig Schritte.

Ein Grinsen bildete sich auf meinem Gesicht. Ich wischte mir die Schweißtropfen von der Stirn, während ich zurück zu meinen Freunden blickte. Die Luft flimmerte vor Hitze, sodass ich sie auf die Entfernung nur schlecht erkennen konnte. Ich wollte gerade zu ihnen zurückgehen, als ich eine Stimme hinter mir hörte.

„Sag mir, Mensch. Welches Getreide wächst auf diesem Feld, das du so achtlos zertrampelst?“ Es war die Stimme einer Frau. Sie klang jung und schön. Sanft wie ein Windhauch, aber trotzdem laut genug, dass ich mir sie nicht eingebildet haben konnte.

Mit einem Kloß im Hals drehte ich mich um. Das Bild von ihr, das ich als Kind immer im Kopf hatte, das mich bis in meine Träume verfolgte, wurde ihr nicht gerecht.

Ich hatte sie mir immer menschlich vorgestellt. Aber dieses … Ding vor mir, war kein Mensch. Sie hatte menschliche Züge, ja, aber alles an ihr wirkte falsch. Ihre Haut war blass, unterschied sich kaum von dem Weiß ihres Kleides. Ähnlich war es mit ihren blonden Haaren. Ihr Gesicht war völlig abgemagert mit eingefallenen Wangen. Ich hatte eher das Gefühl, als würde eine Leiche vor mir stehen statt eines lebendigen Wesens. Wenn da nicht ihre dunklen Augen gewesen wären, die mich jetzt fixierten.

Dann fiel mein Blick auf die Sichel, die sie in ihrer rechten Hand hielt. Auch sie war anders, als ich sie mir vorgestellt hatte. Sie wirkte alt, sah stellenweise sogar rostig aus. Trotzdem war ich mir sicher, dass sie noch immer verdammt scharf war.

Vorsichtig versuchte ich, einen Schritt zurückzutreten. Meine Beine gehorchten mir nicht. Sie blieben einfach stehen. Ich konnte meinen Körper nicht mehr bewegen. Das Einzige, über das ich noch Kontrolle hatte, waren mein Hals, mein Kopf, meine Augen und mein Mund.

Hilfesuchend sah ich zu Karin und Bjarne zurück, aber sie standen nur da. Sie machten keine Anstalten, zu mir zu kommen. Karin hob sogar die Hand, um mir zu winken. Sie beachteten das Monster gar nicht!

Mein nächster Blick galt wieder der Mittagsfrau. Sie hatte ihre Sichel zum Schlag erhoben.

„Gerste!“, schrie ich panisch. „Gerste! Auf dem Feld wächst Gerste!“

Mein Herz raste. War das noch rechtzeitig gewesen? Oder schnitt mir die Mittagsfrau in wenigen Sekunden den Kopf ab? Was, wenn sie mehrere Anläufe brauchte? Wenn ihre Sichel doch nicht scharf genug war?

Doch die Frau legte bloß ihren Kopf schief. Sie kniff die Augen zusammen, musterte mich wieder. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie endlich die Sichel sinken ließ.

„Wann war die Blütezeit der Pflanzen?“, fragte sie weiter. Die Bewegung ihrer Lippen war das Einzige, was halbwegs menschlich wirkte.

Ich spürte, wie der Kloß in meinem Hals wuchs. Er drohte, mich zu ersticken.

„Juni“, presste ich hervor. „Die Gerste hat Mitte Juni geblüht.“

Krampfhaft kratzte ich alles zusammen, was wir auf unserem Schulausflug zum örtlichen Bauernhof gelernt hatten. Wir waren genau zur Blütezeit dort gewesen. Aber viel mehr wusste ich nicht über Gerste.

Die Mittagsfrau würde mich nicht in Ruhe lassen. Sie würde weiterfragen, bis ich eine ihrer Fragen nicht beantworten konnte. Oder bis es 13 Uhr war … Wie spät war es jetzt? Ich konnte meine Armbanduhr nicht erkennen, den Arm noch immer nicht bewegen. Aber da wir um 13 Uhr zuhause sein wollten, konnte es sich nur noch um Minuten handeln!

„Wie gut sind die Pflanzen dieses Jahr gewachsen?“, stellte sie ihre nächste Frage. Ihre Stimme klang lieblich. Darin lag nicht ein Hauch Böses.

Flüchtig spähte ich über das Feld. Die schnelle Kopfbewegung ließ Schwindel in mir aufkommen. Auch wurde mir allmählich übel, während die Sonne weiter unerbittlich mit ihren Strahlen auf meinen Kopf knallte.

Die Frage!‘, mahnte ich mich in Gedanken.

Das Getreide sah gut aus. Zumindest hoffte ich das. Andererseits war es in den letzten Tagen sehr heiß gewesen.

Ich versuchte, möglichst langsam und deutlich zu sprechen, um etwas Zeit zu gewinnen. „Die Pflanzen sind gut gewachsen. Es war ein gutes Jahr. Lediglich die letzten Tage waren etwas heiß, aber ich denke nicht, dass das der Ernte groß schaden wird. Ein gutes Jahr.“ Mehr wagte ich nicht zu sagen. Wenn ich etwas Falsches sagte … Ich wollte gar nicht darüber nachdenken.

Es folgten noch einige weitere Fragen, die ich mehr schlecht als recht beantworten konnte. Trotzdem saß mein Kopf noch immer auf meinen Schultern. Es musste der Mittagsfrau also genügt haben.

Wenn da doch nur nicht diese verdammte Sonne gewesen wäre …! Ich wünschte, ich könnte meinen Arm über meinen Kopf halten, irgendwie auch nur ein kleines bisschen Schatten bekommen, aber die lähmende Magie der Mittagsfrau hatte mich voll im Griff. Wenn mich ihre Fragen nicht dahinrafften, würde die Sonne bald ihr Übriges tun.

„Was wird aus dieser Gerste gemacht?“, stellte die Frau ihre nächste Frage.

Inzwischen war mir speiübel. Ich konzentrierte mich mit aller Kraft darauf, zu antworten. „Bier“, hauchte ich. Ich atmete schwer. Der Schwindel wurde immer schlimmer. Ich konnte kaum noch etwas erkennen. Trotzdem redete ich weiter. „Bier. Das konnte ich mir merken. Die Gerste wird für Bier verwendet. Fast 90 Prozent der Gerste hier wird … wird als Braugerste angebaut. Der Rest wird hauptsächlich zu … Mehl verarbeitet. Der Bauer hat da einen … einen Käufer.“

Ich strauchelte. Mehr fiel mir nicht ein. Inzwischen fühlte mein Kopf sich an, als würde er gleich platzen.

Die Insekten, die im Feld hockten, zirpten inzwischen so laut, dass ich kaum etwas anderes hören konnte. Konnten sie nicht einfach still sein?! Ich musste die nächste Frage hören!

Und dann war da noch mein Atem. Er ging kurz und stoßweise. Auch er kam mir viel lauter vor, als er hätte sein dürfen.

Krampfhaft versuchte ich, die Luft anzuhalten, damit ich die nächste Frage nicht verpasste, aber es kostete mich zu viel Anstrengung. Auf meine Augen konnte ich mich bereits nicht mehr verlassen. Ich sah nicht einmal mehr, wie der Boden auf mich zuraste. Dann verlor ich das Bewusstsein.

„Andreas! Scheiße, Andreas wach auf!“, hörte ich eine entfernte Stimme. Gleichzeitig spürte ich etwas Nasses in meinem Gesicht.

Mühsam stemmte ich die Augen auf. Die Sonne war schwächer geworden. Nein, das war etwas anderes … Bjarne hielt ein Handtuch über mich, um mir schützenden Schatten zu spenden.

Und da war auch Karin. Sie hielt eine offene Wasserflasche in der Hand, während sie mit der anderen Hand meine Stirn fühlte.

„Wie spät ist es?“, fragte ich schwach.

Ich konnte die Erleichterung in Karins und Bjarnes Gesichtern fast schmecken.

„Scheiße, du hast uns Angst gemacht!“, sagte Bjarne. „Es ist kurz nach eins.“

„Keine Sorge. Deine Mutter weiß Bescheid. Sie wird jeden Moment hier sein“, ergänzte Karin.

Ich lächelte schwach. Dann fiel mir etwas anderes ein. „Warum habt ihr mir nicht geholfen?“, fragte ich.

„Was meinst du?“, erwiderte Karin. „Wir sind sofort zu dir gerannt, als du umgefallen bist!“

Ich schüttelte den Kopf. Der Schwindel wurde wieder stärker. „Ich meinte wegen der Frau. Der Mittagsfrau.“

Karin und Bjarne warfen einander einen fragenden Blick zu. Dann sahen sie mich besorgt an.

„Da … Da war keine Frau“, erklärte Karin.

Bjarne nickte bestätigend. „Du bist rausgegangen, eine Weile stehengeblieben und dann plötzlich umgefallen.“

Darüber nachzudenken, war mir in dem Moment zu anstrengend. Also ruhte ich mich aus, bis meine Mutter auf dem Feldweg ankam. Gemeinsam brachten sie mich ins Auto und fuhren mit mir ins Krankenhaus.

Zwar durfte ich noch am selben Tag wieder nach Hause, aber ich hatte mich die nächsten zwei Tage hundeelend gefühlt.

Und was die Mittagsfrau anging … Karin, Bjarne und meine Eltern waren sich einig, dass ich sie mir eingebildet haben musste. Die Hitze, dazu das Erlebnis mit dem alten Mann. Das alles habe meine Fantasie angekurbelt.

Ich hingegen war mir da nicht so sicher. Es erklärte nicht, wieso ich mich nicht mehr bewegen konnte. Oder wieso die Mittagsfrau anders aussah, als ich sie mir vorgestellt hatte. Außerdem hatte ich doch bis genau 13 Uhr durchgehalten, oder?

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Die Legende:

Die Mittagsfrau ist ein Feldgeist der slawischen Mythologie. Die Legende ist fast im kompletten slawischen Raum verbreitet – darunter auch die Gegend um den Spreewald in Brandenburg.

Wie im Deutschen leitet sich ihr Name auch in anderen Sprachen vom jeweiligen Wort für „Mittag“ ab – z. B. Południca (von „południe“) im Polnischen, Polednice (von „polední“) im Tschechischen oder полу́дница (Poludnitsa) (von „полдень (polden‘)“) im Russischen.

Aussehen:

Es gibt verschiedenste Beschreibungen, wie die Mittagsfrau aussehen soll, generell lassen sie sich aber zu drei verschiedenen Erscheinungen zusammenfassen:

Die große Frau:

Die erste und wahrscheinlich am weitesten verbreitete Erscheinung ist das Aussehen einer großen Frau. Während sie manchmal als schön bezeichnet wird, beschreiben andere Quellen sie als abgemagert und fast totenähnlich mit eingefallenen Wangen und blasser Haut.

Sie trägt weiße Kleidung oder ist in ein weißes Tuch gehüllt, das den traditionellen niedersorbischen Trauertüchern ähnelt.

Ihre Haare werden oft als blond oder schwarz beschrieben.

Manchmal werden ihr zudem animalische Züge wie z. B. Pferdehufe oder Wildschweinhauer nachgesagt.

Das junge Mädchen:

Diese Erscheinung sieht aus wie ein etwa 12-jähriges Mädchen. Ebenfalls in weiß gekleidet, wirkt sie so besonders harmlos und unschuldig, ist aber genauso gefährlich wie ihre anderen Formen.

Das alte Weib:

Die letzte Erscheinung ist hingegen die einer alten hässlichen Frau mit grauen oder weißen Haaren.

Sie trägt entweder weiße Kleidung oder alte Lumpen.

Gemeinsamkeiten:

Neben der weißen Kleidung gibt es noch ein paar weitere Gemeinsamkeiten der drei Erscheinungen. So kann die Mittagsfrau je nach Region und Erzählung z. B. eine Bratpfanne, eine Sichel, eine Sense, eine Peitsche oder ein anderes Utensil bei sich haben.

Außerdem wird sie gelegentlich mit einem kleinen Wirbelwind in Verbindung gebracht, auf dem sie entweder reitet oder der sie selbst ist.

Eigenschaften:

Die wohl bekannteste Eigenschaft der Mittagsfrau findet sich in ihrem Namen: Sie taucht nur in der Mittagszeit auf.

Der genaue Zeitpunkt kann sich je nach Region unterscheiden, aber im Normalfall ist es eine feste Uhrzeit, die eine oder zwei Stunden dauert. Am häufigsten habe ich von der Stunde zwischen 12 und 13 Uhr gelesen. Die Mittagsfrau lauert den Menschen auf, die sich zu dieser Zeit auf dem Feld aufhalten.

Häufig sind das Arbeiter, die ihre Ruhepause ignorieren oder nicht auf die Uhr gesehen haben. Aber sie greift auch Kinder und andere Leute an, die sich aufs Feld verirrt haben.

Besonders häufig handeln die Geschichten von Mädchen oder Frauen, die zur Mittagsstunde auf Flachsfeldern arbeiten.

Die Methoden der Mittagsfrau:

Wenn jemand das Pech hat, der Mittagsfrau zu begegnen, versucht sie im Normalfall, ihn zu töten. Wie sie dabei vorgeht, kann sich ebenfalls je nach Region und Erzählung stark unterscheiden.

Die redselige Mittagsfrau:

Einige Leute sagen, dass die Mittagsfrau so lange auf ihr Opfer einredet oder es mit Fragen löchert, bis es stirbt.

Eine meiner Meinung nach sinnvollere Version hiervon besagt, dass sie ihr Opfer nur dann tötet, wenn es sich von ihr abwendet, statt ihr weiter zuzuhören.

Alternativ lässt sie einen so lange leben, wie man über seine Arbeit auf dem Feld reden oder ihre Fragen beantworten kann – oft stellt sie hierbei Fragen zur Feldarbeit, seltener Rätsel. Auch kann sie spezifische Fragen zu dem Feld fragen, auf dem man sich gerade befindet: Wann wurde ausgesät? Wann war die Blütezeit? Wie gut wachsen die Pflanzen dieses Jahr? Beantwortet man die Frage falsch oder versucht, das Thema zu wechseln, wird man getötet.

Die einzige Möglichkeit, der Mittagsfrau in diesen Situationen zu entkommen, ist, wenn man bis 13 Uhr durchhält. Dann verlassen die Mittagsfrau ihre Kräfte und sie verschwindet.

Die mordlustige Mittagsfrau:

In anderen Versionen ist die Mittagsfrau weniger redselig. Sie greift jeden Menschen an, der sich in ihrer Stunde allein aufs Feld wagt. Dafür taucht sie vor ihren Opfern auf und köpft sie mit ihrer Sichel oder Sense.

Sollte sie keine Waffe bei sich haben, bricht sie ihnen das Genick oder tötet mit ihrer bloßen Berührung. Manchmal bewegt sie sich hierbei fort, indem sie auf einem Wirbelwind reitet.

Andere Methoden:

Anderen Versionen zufolge löst sie Mittagsfrau bei den Menschen Wahnsinn oder Verwirrung aus. Sie zerrt an ihren Haaren, wodurch sie Kopf- oder Nackenschmerzen verursacht, lässt sie Halluzinieren, verbrennt ihre Haut oder löst Schwindel aus – alles Symptome, die man heutzutage einem Sonnenstich oder Hitzeschlag zuordnen würde.

Alternativ schlägt die Mittagsfrau ihre Opfer so lange, dass sie mehrere Tage Schmerzen haben, lähmt sie oder sticht ihnen die Augen aus.

So oder so möchte man der Mittagsfrau also auf keinen Fall begegnen. Das gilt besonders, wenn man ein Kind ist. Kleinkinder und Babys werden von der Mittagsfrau entführt und durch Wechselbälger ausgetauscht. Dabei ist es egal, ob die Eltern das Kind unbeaufsichtigt auf dem Feld lassen, das Kind von sich aus auf das Feld gegangen ist oder die Mittagsfrau es auf das Feld gelockt hat.

Älteren Kindern ergeht es hingegen wie den Erwachsenen.

Doch so grausam die Mittagsfrau auch ist, so ist sie nicht nur schlecht. Sie ist auch eine Beschützerin der Felder. Dabei greift sie nicht nur Menschen an, die sich unrechtmäßig auf das Feld wagen, während die Bauern ihre Mittagspause machen, sondern sie schützt auch die Pflanzen vor der sengenden Mittagshitze.

Lebensraum/Vorkommen:

Aufgrund der regionalen Verbreitung der Legende waren die bisherigen Sichtungen hauptsächlich auf Feldern (meist Getreidefeldern) in den slawischen Regionen, seltener auch in Obstgärten.

Gesichtet werden kann sie angeblich von der Blütezeit der Felder bis zur Ernte, sie taucht jedoch nur in der Mittagsstunde an sonnigen, besonders heißen Tagen auf.

Ursprung:

Wie ich unter „Eigenschaften“ bereits angedeutet habe, ist die Legende der Mittagsfrau wahrscheinlich aus den natürlichen Phänomenen des Sonnenstichs und des Hitzeschlags entstanden.

Früher hatten die Menschen keine Erklärung dafür, wie es zu den plötzlichen Toden, Halluzinationen und anderen Symptomen kam. Sie erfanden die Mittagsfrau, um sie zu begründen.

So gesehen ist die Mittagsfrau eine Mahnung, dass Feldarbeiter ihre Ruhestunde, in der die Sonne meist am höchsten steht und die Hitze am schlimmsten ist, ernstnehmen sollen.

Gleichzeitig dient sie als Kinderschreckfigur. Dank ihr konnten Eltern ihre Kinder überzeugen, nicht bei der sengenden Hitze auf den Feldern zu spielen, und konnten gleichzeitig verhindern, dass die Kinder dabei versehentlich die Ernte zerstörten.

Der Glaube an die Mittagsfrau war dabei so weit verbreitet, dass viele Menschen selbst Anfang des 20. Jahrhunderts noch glaubten, die Mittagsfrau sei real. Und auch, wenn sie seitdem an Bekanntheit verloren hat, ist sie noch heute kein unbekanntes Wesen.

So findet man sie z. B. in der Popkultur wieder – sei es in Creepypastas oder als ein Wesen mit dem Namen „Mittagserscheinung“ in der Videospielreihe The Witcher.

Was haltet ihr von der Mittagsfrau? Kanntet ihr die Legende schon? Und hat Andreas sich die Mittagsfrau eurer Meinung nach bloß eingebildet, oder ist ihm wirklich ein Naturgeist erschienen? Schreibt es in die Kommentare!

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2 Kommentare

    • Jeremie Michels schreibt:

      Das freut mich. Mir gefällt die Legende auch sehr. Seitdem ich für den Beitrag recherchiert habe, freu ich mich immer ein wenig, wenn ich an warmen Mittagen ein Getreidefeld sehe. 😁

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