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Tsukumogami – Monster sind real!

Tsukumogami behandelt endlich wieder einen Yōkai. Mir ist ehrlich gesagt nicht einmal aufgefallen, dass meine letzte japanische Legende schon 9 Monate her war.

Dafür hat die heutige Geschichte mit schnuckeligen 4.448 Wörtern deutliche Überlänge. Ich hoffe, sie gefällt euch.

Viel Spaß beim Gruseln!

Die Geschichte:

Ich saß neben Kichiro in dem kleinen weißen Transporter, den wir vorhin in Tokio gemietet hatten. Die Natur war grün, die Sonne schien und unsere Playlist schallte aus den Boxen, während wir die engen und kurvigen Straßen entlangfuhren.

Wir näherten uns unserer neuen Heimat. Shizuka-Mura war ein kleines Dorf, nur etwa zwei Stunden von Tokio entfernt. Einsam, fast unbedeutend stand es am Fuß eines Berges. Ohne den Arbeitskollegen von Kichiro, der uns auf das verschlafene Örtchen aufmerksam gemacht hatte, hätten wir es wahrscheinlich nie entdeckt.

Er wusste jedoch, dass wir gemeinsam ein Haus kaufen wollten. Auch hatte er mitbekommen, dass wir uns bereits nach einigen Akiyas umgesehen hatten. So nennt man die zahlreichen leerstehenden Häuser, die in den ländlichen Gegenden Japans zu finden sind. Meist kann man sie zu spottbilligen Preisen erstehen, da sie langsam am Zerfallen sind. Und wenn ich spottbillig sage, meine ich spottbillig: Die Häuser inklusive Grundstück fangen teilweise schon bei umgerechnet 300 bis 400 Euro an.

Das Haus, für das wir uns dank des Kontakts des Arbeitskollegen letztendlich entschieden hatten, war mit seinen 2,5 Millionen Yen, etwa 15.500 Euro, zwar etwas teurer, aber der Zustand war mehr als nur überzeugend. Klar mussten wir noch einiges an Geld in die Renovierung stecken, zum Beispiel mussten wir die komplette Elektrik sowie die Leitungen erneuern lassen, aber vieles konnten wir tatsächlich selbst erledigen. Immerhin hatte ich in den zehn Jahren, in denen ich in Deutschland als Handwerker gearbeitet hatte, einiges gelernt. Außerdem war das Haus trocken, weder von Schimmel noch von Termiten befallen und selbst die meisten Möbel und Tatami-Matten waren in einem noch durchaus brauchbaren Zustand.

„Wenn ich in Deutschland für den Preis so ein Haus gefunden hätte, hätte ich Angst gehabt, dass es darin spukt“, hatte ich scherzhaft zu Kichiro gesagt, nachdem ein Gutachter uns einen groben Überblick über die anfallenden Kosten gegeben hatte. Dass ich mit der Aussage ins Schwarze getroffen hatte, hätte ich mir jedoch nicht träumen lassen. Wir hatten den Kaufvertrag noch am selben Abend unterzeichnet.

Endlich hatten wir das Dorf erreicht. Wir fuhren durch enge, teilweise baufällige Straßen, sodass wir nur im Schritttempo fahren konnten. Währenddessen begegneten wir einigen Bewohnern, die uns allesamt neugierig nachsahen. Wir begrüßten sie je mit einem freundlichen nicken, bis wir schließlich in unsere Straße einfuhren.

Unser Haus war nicht das erste Akiya, dem wir heute begegneten. Obwohl Shizuka-Mura nur wenige Einwohner hatte, gab es davon in der Gegend einige. Manche von ihnen sahen, genau wie unseres, vergleichsweise gut aus, andere waren völlig zerfallen und überwuchert. Wahrscheinlich waren die meisten jüngeren Leute aus der Gegend in die Städte gezogen und hatten die Häuser leer zurückgelassen.

Dann endlich fuhren wir auf unsere kleine Auffahrt. Unsere neue Nachbarin, eine ältere Dame, war gerade in ihrem Garten. Auch sie sah neugierig zu uns rüber.

„Guten Tag“, grüßte ich freundlich, während ich ausstieg.

„Guten Tag“, grüßte sie zurück.

„Wir sind die neuen Nachbarn. Das ist Herr Suzuki und ich bin Berger“, stellte ich uns, wie in Japan üblich, mit unseren Nachnamen vor.

„Guten Tag“, grüßte nun auch Kichiro.

„Gotō“, stellte sich die Frau vor. Sie beäugte uns einen Augenblick neugierig. „Sie müssen gute Freunde sein“, stellte sie schließlich fest. Ein anderer Grund, warum zwei Männer sich gemeinsam ein Haus kauften, fiel ihr anscheinend nicht ein.

„Wir sind verlobt“, erklärte ich. Leider ein Dauerzustand, da zwei Männer hier in Japan noch nicht heiraten durften.

Frau Gotō guckte überrascht, dann aber nickte sie freundlich. „Es ist schön, dass junge Leute wie Sie in unser kleines Dorf ziehen. Ich kann zwar nicht schwer tragen, aber falls Sie Hilfe gebrauchen können, sagen Sie bitte Bescheid.“

Wir bedankten uns, woraufhin sie weiter zu ihrer Haustür ging. Bevor sie sie jedoch öffnete, drehte sie sich noch einmal zu uns um.

„Ach so. Bevor ich es vergesse: Ich höre manchmal nachts Geräusche aus Ihrem Haus. Ich weiß nicht, wer oder was das ist, aber passen Sie bitte auf sich auf. Nicht, dass Sie ungewollte Gäste haben.“ Dann war sie auch schon in ihrem Haus verschwunden.

Kichiro und ich sahen einander überrascht an. Ich verzog das Gesicht. „Na das klingt ja vielversprechend“, sagte ich.

Mein Verlobter klopfte mir auf die Schulter. „Mach dir nichts draus, Lennart. Wenn das irgendwelche Tiere sind, finden wir sie beim Entrümpeln, und falls es ein Obdachloser ist, zieht er bestimmt weiter ins nächste Akiya. Es ist ja nicht so, dass es nicht genug davon in der Gegend gibt.“

Das brachte mich zum Lachen. Sein Optimismus und seine immer lockere Art, mit Problemen umzugehen, waren zwei der Gründe, warum ich mich damals in ihn verliebt hatte.

Den restlichen Tag passierte nichts Außergewöhnliches. Wir fingen an, die Möbel und Haushaltsgegenstände einen Raum nach dem anderen durchzusehen. Wir sortierten, was wir noch gebrauchen konnten, und was wegsollte. Wie bereits gesagt waren viele der Möbel noch immer in einem guten Zustand, weshalb wir die meisten Stühle, Tische, Schränke und sogar ein Radio, das in der Küche stand, behielten.

Die anderen Dinge – ein kaputter Besen, ein Stuhl mit gebrochener Armlehne, alte Zeitschriften, kaputtes Geschirr, diverse ausgeblichene Bilder und die alten Futons, um nur ein paar Dinge zu nennen – brachten wir nach draußen. Wir stellten sie auf die Auffahrt, von wo aus wir sie später geordnet in den Transporter laden würden.

Am frühen Abend machte uns das schwindende Sonnenlicht jedoch ein Strich durch die Rechnung. Da der Strom nicht funktionierte, konnten wir bald kaum noch etwas erkennen. Die batteriebetriebene Camping-Lampe, die wir extra für diesen Zweck organisiert hatten, spendete zwar genug Licht für eine gemütliche Atmosphäre, aber es war zu schwach, um die Möbel ausreichend zu beleuchten. Daher entschieden wir, es für heute gut sein zu lassen.

Zum Abendessen gab es Instant-Ramen. Frau Gotō war so freundlich, uns dafür heißes Wasser zu spendieren. Wir aßen die Nudeln bei ihr, während sie uns von der Gegend erzählte. Trotz der bescheidenen Größe hatte Shizuka-Mura einen kleinen Supermarkt, zwei empfehlenswerte Restaurants und einen gut gepflegten Schrein – nur für denn Fall, dass wir uns noch etwas aus den Göttern machten, wie Frau Gotō mit einem Augenzwinkern erzählt hatte.

Nach dem Essen bedankten wir uns bei ihr für das heiße Wasser und die gute Gesellschaft, woraufhin sie uns anbot, dass wir gerne am nächsten Abend wiederkommen könnten.

Anschließend gingen wir zufrieden und erschöpft von der vielen Arbeit ins Bett. Dafür hatten wir einen Futon im Gästezimmer ausgebreitet – dem einzigen Raum, der nicht völlig mit Ramsch zugestellt gewesen war.

Nachdem wir uns hingelegt und unsere Camping-Lampe ausgeschaltet hatten, war es um uns herum stockdunkel. Die Luft roch noch immer nach Staub, auch wenn wir uns größte Mühe gegeben hatten, den Raum zumindest oberflächlich zu putzen. Jetzt lauschte ich Kichiros langsamen Atem neben mir. Und so war ich bald eingeschlafen.

Mitten in der Nacht wurden wir jedoch von seltsamen Geräuschen aus dem Schlaf gerissen. ‚Klack. Klack‘, ertönte es leise aus dem Flur. Klack. Es klang fast wie Schritte, nur dass es dafür zu langsam und irgendwie zu aggressiv war.

„Lennart? Was ist das?“, fragte Kichiro, als er merkte, dass ich wach war.

„Keine Ahnung“, erwiderte ich. Vielleicht waren das die nächtlichen Geräusche, von denen Frau Gotō erzählt hatte.

Leise, um selbst keinen Lärm zu machen, stand ich auf. Ich tastete nach der Camping-Lampe, schaltete sie aber noch nicht ein, um nicht auf mich aufmerksam zu machen. Anschließend schlich ich auf leisen Sohlen zur Zimmertür. Kichiro war dicht hinter mir. Als ich den Shoji, die japanische Schiebetür, erreicht hatte, schob ich ihn langsam auf. Klack. Klack. Die Geräusche waren jetzt ganz in der Nähe. Vorsichtig hob ich den Arm mit der Camping-Laterne in den Flur hinaus, während ich mit der freien Hand nach den Einschaltknopf tastete.

Klick. Der Flur vor uns war nun in sanftes Licht gehüllt. Ich spähte nach links und rechts. Er war leer. Allerdings hatten jetzt auch die Geräusche aufgehört.

„Nichts“, sagte ich zu Kichiro. Ich schob den Shoji weiter auf, damit auch er etwas sehen konnte.

Zur Sicherheit gingen wir die angrenzenden Räume ab. Aber auch hier war alles wie vorher. Zwischen dem Gerümpel schien sich zumindest niemand zu verstecken.

„Vielleicht sind es die alten Rohre?“, schlug Kichiro vor. „Wenn ich mich richtig erinnere, verlaufen Sie hier genau unter dem Boden.“

Ich nickte. Das war eine Möglichkeit.

„Komm Lennart, lass uns zurück ins Bett gehen. Wir haben morgen noch einen anstrengenden Tag vor uns.“

„Ist gut“, stimmte ich zu.

Anschließend legten wir uns wieder hin. Die restliche Nacht blieb ruhig.

Am nächsten Morgen wollten wir keine Zeit verlieren. Nach einem knappen Frühstück machten wir uns direkt an die Arbeit. Auch heute kamen wir gut voran.

Zuerst war das Wohnzimmer dran. Es dauerte anderthalb, vielleicht zwei Stunden, bis wir den meisten Ramsch aussortiert hatten. Kichiro ging bereits weiter in den nächsten Raum, während ich dabei war, den letzten Rest nach draußen zu bringen.

Als ich jedoch ins Wohnzimmer zurückkam, stockte ich. Am Tisch lehnte ein weißer Regenschirm mit aufwendiger Musterung. Er war mir vorher nicht aufgefallen, obwohl wir mit dem Raum bereits fast fertig waren. Misstrauisch ging ich auf ihm zu.

Es war einer dieser Schirme aus gewachstem Papier. Er musste schon sehr alt sein. Sein Weiß ging bereits ins Gelbliche. Trotzdem war er wunderschön verarbeitet. Vorsichtig öffnete ich ihn ein Stück. Äste mit rosa Kirschblüten verzierten seine Oberfläche. Doch leider war er an einigen Stellen bereits gerissen. Also klappte ich ihn wieder zu und brachte ihn zusammen mit einer kaputten Vase zum Transporter. Anschließend folgte ich Kichiro in den hinteren Teil des Hauses.

„So ein Mist!“, hörte ich Kichiro entsetzt rufen, als ich auf halbem Weg war.

Ich beschleunigte meine Schritte. „Was ist?“, fragte ich, bereits auf unerwartete Kosten eingestellt.

Kichiro sah mich mit großen Augen an, als hätte er mich nicht erwartet. Dann lachte er plötzlich. „Ach, nichts. Nur ein dummer Aberglaube“, er deutete auf den Shoji neben ihm. Eines der oberen Papierfenster war gerissen. „Wir sollten das möglichst schnell austauschen.“

Ich lehnte mich an die Wand, den Mund zu einem Schmunzeln verzerrt. „Sonst was? Kommt sonst ein Yōkai vorbei und zerreißt auch die anderen?“, riet ich drauf los.

Wieder lachte Kichiro. „Du bist doof. Nein. Es geht um eine Geschichte, die meine Oma mir mal erzählt hat. Wenn man einen kaputten Shoji zu lange ignoriert, kann er zu einem Mokumokuren werden. Dann wachsen ihm ganz viele Augen, mit denen er uns anstarrt.“ Mein Verlobter schüttelte sich übertrieben. „Darauf kann ich gerne verzichten. Ich hab jedenfalls keine Lust, in unserem neuen Haus beobachtet zu werden.“

Grinsend schüttelte ich den Kopf. „Oh. Nein. Darauf kann ich auch verzichten. Also gut. Bis nächstes Wochenende organisieren wir neues Shoji-Papier.“

Kichiro strahlte mich an. Bei solchen Dingen wusste ich nie, woran ich bei ihm war. An manche von ihnen glaubte er, über andere konnte er genauso lachen wie ich.

Schuld daran war seine Oma mütterlicherseits. Sie hatte ihn schon von klein auf mit ihren Geschichten über Yōkai und Geister bei Laune gehalten. Viele davon waren ihr angeblich selbst widerfahren. Und diesen Glauben an das Übernatürliche hatte Kichiro nie verloren.

Ich war da völlig anders. Meine Familie in Deutschland hatte mir seit meiner Geburt klar gemacht, dass es so etwas wie Geister und Monster nur in Geschichten gab. Nichts davon war real – so dachte ich zumindest.

Trotzdem blieb mir Kichiros Satz mit dem Beobachtetwerden im Gedächtnis. Jedes Mal, wenn ich an dem kaputten Shoji vorbeiging, musste ich mir vorstellen, wie tatsächlich Augen aus ihm wuchsen. Über mich selbst belustigt schüttelte ich den Kopf.

Ich war mit den Gedanken noch immer bei dem Shoji, als mir etwas anderes auffiel: Kichiro und ich trugen einen kaputten Schrank nach draußen, wo wir ihn direkt neben die kaputte Vase aus dem Wohnzimmer stellten. Ich hatte den Schirm vorhin hineingestellt, damit er nicht umfiel. Jetzt war die Vase jedoch leer.

Mit gerunzelter Stirn sah ich mich um.

„Was? Hast du was verloren?“, fragte Kichiro.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Ich hatte vorhin einen kaputten Papierschirm hier in die Vase gestellt. Irgendwer muss ihn wohl mitgenommen haben.“

Jetzt kräuselte sich auch Kichiros Stirn. „Na ja. Unser Verlust soll es nicht sein. Wir hätten ihn eh nur weggeworfen. Wenn der Schirm irgendwen glücklich macht, soll er ihn doch haben.“

Ich nickte zögerlich.

Mehr Erwähnenswertes geschah an dem Wochenende zum Glück nicht. Am Samstag arbeiteten wir wieder so lange weiter, wie es das Sonnenlicht erlaubte. Den Abend verbrachten wir dann bei Frau Gotō. Sie hatte uns wie selbstverständlich gebratenen Fisch mit allerlei Beilagen gemacht. Erst wollte Kichiro es gar nicht annehmen, aber da Frau Gotō darauf bestand, wäre es unhöflich gewesen, das Essen abzulehnen.

Die Zeit bei der alten Dame kam mir vor, als würden wir einander schon ewig kennen. Sie erzählte uns weiter von der Gegend, während wir von Tokio und Deutschland erzählten. Auch erwähnten wir die nächtlichen Geräusche – die in der folgenden Nacht übrigens wiederkamen – sowie unseren Verdacht, dass es sich dabei um die alten Rohre handeln könne. Das erleichterte Frau Gotō sichtlich. Wir wünschten einander eine gute Nacht, ehe wir zurück in unser Haus gingen.

Am Sonntag räumten wir weiter auf, bevor wir gegen Nachmittag den Transporter einräumten. Anschließend verabschiedeten wir uns von unserer Nachbarin und machten uns auf den Rückweg nach Tokio. Shizuka-Mura würden wir erst am nächsten Wochenende wiedersehen.

Das zweite Wochenende in dem Dorf verlief ähnlich wie das erste – zumindest, nachdem wir direkt am Freitag den kaputten Shoji repariert hatten. Tagsüber räumten wir weiter die Zimmer auf und die Abende verbrachten wir auf Frau Gotōs Wunsch hin wieder bei ihr. Sie hatte selbst keine Kinder, was vielleicht der Grund war, warum sie uns so herzlich aufnahm. Ihre liebenswürdige Art zauberte mir jedenfalls bald ein Lächeln ins Gesicht, wann immer ich sie sah.

Ungewöhnliches geschah hingegen kaum etwas. Ja, die nächtlichen Geräusche kamen wieder, aber auch diesmal konnten wir nichts Auffälliges entdecken. In der Nacht von Samstag auf Sonntag machten wir uns nicht einmal mehr die Mühe, aufzustehen.

Als wir fast mit dem letzten Zimmer fertig waren – es war bereits Sonntagnachmittag – entdeckte ich jedoch den kaputten Papier-Regenschirm wieder. Zumindest dachte ich erst, dass er es sei. Er stand in der hintersten Ecke des Raumes, völlig unscheinbar an die Wand gelehnt.

Langsam, fast schon vorsichtig ging ich auf ihn zu. „Das ist seltsam“, sagte ich. „Ich hätte schwören können, dass ich den Regenschirm letztes Wochenende schon einmal entsorgt habe.“

Kichiro trat neben mich, um sich das unscheinbare Objekt selbst anzusehen. Aber er zuckte bloß mit den Schultern. „Vielleicht hat er dieselbe Musterung? Ich bin mir sicher, solche Schirme werden zuhauf angefertigt. Vielleicht trugen unsere Vorbesitzer sie im Partnerlook. Oder sie haben einfach mehrere geholt.“ Mehr Gedanken verschwendete er nicht daran.

Mir hingegen wollte der Schirm nicht mehr so recht aus dem Kopf gehen. Ich starrte ihn die ganze Zeit lang an, während ich ihm zum Transporter brachte. Dort schob ich ihn zwischen die anderen Möbel, die wir bereits eingeräumt hatten.

„So. Das war’s“, sagte ich. Ich schlug die Tür zu.

Kichiro hatte bereits unsere Tasche geschultert. Er stieg auf der Beifahrerseite ein, während ich zur Fahrertür ging.

Gerade, als ich die Tür geöffnet hatte, hörte ich jedoch ein Geräusch von der Rückseite des Autos. Es klang fast wie die Tür. Mit gerunzelter Stirn ging ich die wenigen Schritte zurück. Aber hier hinten sah alles ganz normal aus. Vielleicht war nur irgendetwas im Auto heruntergefallen. Also zuckte ich nur wieder mit den Schultern, stieg endlich ein und startete den Motor. Wir fuhren auf direktem Weg zurück nach Tokio.

Die Woche über musste ich immer wieder an unser Akiya denken. Wie gut wir vorankamen, wie nett uns Frau Gotō aufgenommen hatte, aber auch an den Papier-Regenschirm. Ich gestand es Kichiro jedoch erst am Freitag, als wir nach der Arbeit im Auto nach Shizuka-Mura saßen.

„Es ist albern. Aber der Regenschirm geht mir einfach nicht aus dem Kopf“, sagte ich.

Kichiro sah mich ratlos an. „Welcher Regenschirm?“

„Den, von dem ich dachte, dass ich ihn schon einmal entsorgt habe“, half ich ihm auf die Sprünge. „Weißt du, erst verschwindet er spurlos von unserer Auffahrt und dann finden wir einen identischen Schirm in der hintersten Ecke vom Arbeitszimmer. Natürlich hast du recht, dass es nur dasselbe Modell ist. Es muss so sein. Aber das war schon irgendwie unheimlich.“

Kichiro schmunzelte. „Und ich dachte immer, du glaubst nicht an Geistergeschichten“, zog er mich auf. Dann starrte er plötzlich aus dem Fenster. „Wobei ich gestehen muss, dass ich abends manchmal Bewegungen aus dem Augenwinkel gesehen habe. Im Haus meine ich. Aber bisher ist ja noch nichts passiert, das auf einen bösen Geist hindeutet.“ Er schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln.

Ich lächelte zurück. Auch wenn mein Lächeln eher halbherzig war. Das war nicht gerade die Art von Kommentar, die mich aufheitern konnte.

An diesem Wochenende ging es um den ersten groben Hausputz. Bevor wir die Elektriker und die Sanitärinstallateure in das Haus ließen, wollten wir wenigstens die Wände, den Boden und die Möbel vom gröbsten Schmutz befreien.

Mit Putzlappen und Besen bewaffnet, teilten wir uns auf. Ich übernahm das Wohnzimmer, während Kichiro ins Arbeitszimmer ging.

Zuerst fegte ich den kompletten Boden ab und war dabei darauf bedacht, möglichst viel Dreck aus den Tatami-Matten zu schrubben. Ich wirbelte dabei jedoch mehr Staub auf, als dass ich ihn entfernte. Zum Glück würde die Elektrik bereits nächste Woche ausgetauscht werden. Danach hatten wir endlich Licht und konnten auch einen Staubsauger benutzen.

Anschließend machte ich mich daran, die Tische und Schränke mit dem Lappen zu reinigen.

„Hey, Lennart“, hörte ich Kichiro plötzlich aus dem Nachbarzimmer rufen, als ich gerade dabei war, einen besonders hartnäckigen Fleck vom Esstisch zu schrubben. „Ich glaube, ich hab deinen Regenschirm wiedergefunden.“

Ich erstarrte in der Bewegung. Was? Das war unmöglich! Wir hatten alle Räume bereits durchgesehen. Mein Körper fühlte sich verkrampft an, während ich die Gummihandschuhe auszog. Langsam, fast mechanisch ging ich zu Kichiro ins Arbeitszimmer.

Mein Verlobter stand vor einem Schreibtisch, die oberste Schublade geöffnet, und hielt ein Stück Papier in den Händen. Bei genauerer Betrachtung fiel mir auf, dass es ein Schwarz-Weiß-Foto war. Ich nahm es ihm ab.

Als ich sah, was darauf abgebildet war, atmete ich erleichtert auf. Es war eine junge Frau in einem Kimono. Sie hatte ein hübsches Gesicht und lächelte in die Kamera, während sie einen aufgespannten Regenschirm an ihre Schulter gelehnt festhielt. Den Regenschirm.

Jetzt musste ich lachen. „Und ich dachte schon, der Regenschirm ist auf magische Weise wieder aufgetaucht.“

Kichiro grinste mich frech an. Anscheinend war genau das seine Intention gewesen. „Langsam fürchte ich, du glaubst doch an Geister“, neckte er mich.

Ich schüttelte grinsend den Kopf, ehe ich flüchtig die Rückseite des Bildes ansah.

„Vielleicht hätten wir den Schirm doch nicht wegwerfen sollen“, merkte ich an. ‚Mariko 1921‘ stand dort in verblasster Handschrift geschrieben. „Den Schirm gab es schon in den 1920ern.“

Das brachte Kichiro zum Erstarren. Nur für höchstens eine Sekunde, aber ich hatte es bemerkt. „Der Schirm ist über 100 Jahre alt?“, fragte er.

Ich nickte. „Ja. Denkst du, er wäre was wert gewesen?“

Kichiro zögerte. „Vielleicht.“ Dann winkte er jedoch ab. „Aber er war kaputt. Es ist gut, dass wir ihn entsorgt haben. Bei so alten Gegenständen kann man nie wissen.“

Ich hatte das Gefühl, dass er noch mehr sagen wollte. Stattdessen widmete er sich jedoch schnell wieder der Schublade und machte damit weiter, sie auszuräumen. Die meisten Sachen landeten in einem Müllsack. Ich warf das Foto dazu.

In den folgenden Wochen dachte ich noch einige Male an den Regenschirm, aber er tauchte nicht mehr auf. Weder im Haus noch auf irgendwelchen Fotos. Und so kam es, dass er langsam, aber sicher aus meinem Gedächtnis verschwand.

Was hingegen blieb, waren die nächtlichen Geräusche. Mal klangen sie weiter entfernt, mal, als seien sie direkt vor der Tür. Aber wie gesagt schenkten Kichiro und ich ihnen keine wirkliche Aufmerksamkeit mehr.

Nur ein einziges Mal, nachdem der Strom endlich funktionierte, ging ich erneut nachts auf den Flur. Jetzt war er hell erleuchtet. Wie auch die letzten Male war er leer. Ich muss gestehen, dass ich kurz überlegte, die anderen Räume noch einmal abzulaufen. Nur zur Sicherheit. Aber das wäre bescheuert gewesen. Ganz davon abgesehen, dass ich dort sicherlich nichts gefunden hätte, sollten nächste Woche die alten Rohre ausgetauscht werden. Ab dann waren die Geräusche wahrscheinlich eh vorbei.

Am folgenden Wochenende waren Kichiro und ich auf einem gefühlstechnischen Hoch, während wir wieder nach Shizuka-Mura fuhren. Es war bereits dunkel, da wir vorhin noch die Wohnung leergeräumt hatten. Kichiros kleiner Toyota war bis unter das Dach mit unseren Sachen beladen. Heute würden wir endlich vollends umziehen.

Klar gab es noch einiges, was wir im Haus zu erledigen hatten, aber das würden wir machen, während wir dort bereits lebten. Das Wichtigste – die Möbel, funktionierender Strom, die neuen Wasserleitungen und die neuen Sanitäranlagen – war immerhin schon dort.

Wir grinsten wie zwei Lottogewinner, während Kichiro auf der Auffahrt parkte. Ich schnappte mir einen Umzugskarton aus dem Auto und betrat dicht hinter Kichiro das Haus. Dort blieb ich einen Moment stehen, schloss die Augen und atmete tief ein. Der inzwischen vertraute Geruch des Hauses stieg mir in die Nase. Es roch nicht länger nach Staub oder abgestandener Luft – die Gerüche hatte die Grundreinigung letztes Wochenende beseitigt –, sondern einfach nur nach Heimat.

Ich brachte den Karton ins Schlafzimmer, ehe ich mit meinem Verlobten zusammen das restliche Auto ausräumte. Im Nachhinein war ich ein wenig überrascht, wie die Kartons, die sich jetzt vor uns stapelten, überhaupt in das kleine Auto gepasst hatten.

Kichiro grinste noch immer breit. „Ich weih dann mal die Dusche ein“, sagte er, ehe er mir einen Kuss gab.

„Ist gut“, erwiderte ich. „Ich räum schonmal unsere Klamotten in den Schrank. Aber lass mir noch heißes Wasser nach!“ Den letzten Satz musste ich rufen, so enthusiastisch war er bereits losgestürmt. Es dauerte nicht lange, da hörte ich auch schon die Dusche. Ich schüttelte schmunzelnd den Kopf.

Dann widmete ich mich wieder den Kartons. Ich öffnete sie einen nach dem anderen, bis ich unsere Kleidung gefunden hatte. Vorsichtig hob ich einen Stapel von Kichiros Hemden daraus hervor. So viele würde er im Homeoffice wahrscheinlich gar nicht mehr benötigen, trotzdem gab ich mir alle Mühe, sie nicht zu zerknittern.

Langsam balancierte ich sie zu unserem Wandschrank. Es war einer dieser japanischen Schränke, der sich in der Wand verbarg. Ich schob die Tür erst mit dem Ellenbogen, dann mit dem Fuß beiseite. Als ich jedoch gerade die Hemden hineinlegen wollte, fiel mein Blick auf einen Gegenstand, der in der unteren Ecke lehnte: ein mir sehr vertrauter elegant gearbeiteter Papier-Regenschirm.

Die Hemden raschelten, während sie mir aus der Hand glitten. Kichiro wäre wahrscheinlich in Ohnmacht gefallen, hätte er es gesehen. Aber das war mir in diesem Moment ehrlich gesagt egal.

Meine Hand zitterte, während ich sie nach dem Schirm ausstreckte. Meine Finger hatten das Papier fast erreicht, da bewegte er sich plötzlich. Zuerst dachte ich, er falle bloß um, bis ein großes Auge mich völlig unerwartet durch das an einer Stelle gerissene Papier anblinzelte. Als Nächstes folgte eine lange Zunge, die sich knapp darunter aus einem weiteren Loch schlängelte.

Unfähig, auch nur einen einzigen Ton von mir zu geben, torkelte ich rückwärts, meinen Mund und meine Augen weit aufgerissen. Mein Fuß verfing sich in einem der Hemden, weshalb ich mit einem leisen ‚Fump‘ auf den Tatami-Matten landete.

Jetzt bemerkte ich auch das Bein, das nun statt des Griffs aus dem Regenschirm ragte. Es sah menschlich aus und trug eine japanische Holzsandale.

Mit einem Sprung setzte der Schirm sich in Bewegung. ‚Tock‘, machte seine Sandale einen dumpfen Laut auf der Strohmatte. Tock. Tock. Es war nicht dasselbe Geräusch, das wir nachts vom Flur gehört hatten, aber es hatte eindeutig denselben Rhythmus. Ich war mir sicher, dass es dieses Ding gewesen sein musste, das wir gehört hatten.

Langsam, sein einzelnes Auge stur auf mich gerichtet, kam mir der Schirm näher. Seine Zunge schwang bei jeder Bewegung.

Panisch krabbelte ich rückwärts. So wie ich dalag, befand sich dieses Wesen genau zwischen der Tür und mir.

„Hilfe! Kichiro! Hilfe!“, schrie ich. Meine Stimme war so voller Panik, dass ich sie selbst kaum erkannte. Aber was konnte ich anderes tun? Wenn jemand eine Ahnung hatte, was dieses Ding war, was ich jetzt machen musste, dann war das mein Verlobter.

Tock. Tock.

Inzwischen spürte ich die Wand in meinem Rücken.

Tock.

Der Schirm hatte mich fast erreicht. Dann blieb er vor mir stehen.

„Hilfe!“, kreischte ich erneut. Tränen bildeten sich in meinen Augen. Mein Herz raste in meiner Brust, während sich meine Kehle wie zugeschnürt anfühlte.

Jetzt streckte der Schirm mir seine Zunge entgegen. Langsam kam sie mir näher und näher. Ich presste mich so eng an die Wand, wie ich nur konnte, traute mich nicht einmal, nach dem Ding zu treten. Die Zunge wischte kalt und schleimig über meinen Arm, während der Schirm mich ableckte.

Ich befürchtete bereits, dass er gleich einen kräftigen Bissen von mir nehmen würde, da stürmte plötzlich Kichiro in den Raum. Er trug einen hastig übergeworfenen Bademantel, blieb für eine Sekunde ungläubig in der Tür stehen. Dann trafen sich unsere Blicke.

„Weg! Weg!“, schrie er den Schirm an, während er auf mich zurannte. Er machte wedelnde Bewegungen mit den Armen, als wenn er ein Hühnchen verscheuchen wolle.

 Zu meiner Überraschung hüpfte der Schirm beiseite. Er drehte sich zu meinem Verlobten um, ehe er einige Sätze zurück Richtung Wandschrank machte.

Kichiro beachtete ihn nicht weiter. Stattdessen hockte er sich vor mich, beäugte mich einen Moment und schloss mich kurz darauf in den Arm. „Alles in Ordnung?“, fragte er mich.

„Keine Ahnung“, schluchzte ich in seinen Bademantel. „Er hat mich abgeleckt. Was ist das für ein Ding?“

„Schhhh“, machte Kichiro, während er meinen Rücken streichelte. „Alles ist gut. Das ist ein Kasa-Obake. Sie spielen gerne Streiche, sind aber nicht gefährlich.“

Ich antwortete nicht, nahm die Erklärung schweigend hin, als wäre sie in irgendeiner Weise logisch.

Dann plötzlich musste Kichiro lachen. „Ich hätte echt nicht gedacht, dass es sie gibt. Meine Oma hat zwar gesagt, dass sie mal einen Tsukumogami, einen belebten Haushaltsgegenstand gesehen habe, aber wir haben ihr nicht geglaubt.“ Er drückte mich sanft von sich, sah dann in die Luft. „Hörst du, Oma, es tut mir leid, dass ich dir nicht geglaubt habe“, sagte er, als ob ihr Geist hier wäre und uns hören könnte. Aber vielleicht war er das ja sogar. Der Kasa-Obake hatte mein Weltbild völlig zerstört. Alles, was ich über Monster zu wissen glaubte, war falsch.

Vorsichtig wagte ich einen Blick Richtung Wandschrank. Der Regenschirm lehnte davor an der Wand, jetzt wieder völlig unscheinbar. „Was machen wir jetzt mit ihm?“, fragte ich. Meine Stimme war immer noch leicht zittrig.

Kichiro sah ebenfalls zum Schirm, dann sah er mir wieder ins Gesicht. „Ich … weiß es nicht“, sagte er ehrlich. „Manchmal sollen Tsukumogami das Haus verlassen, wenn sie sich ignoriert fühlen. Andererseits … Du wolltest doch schon immer ein Haustier, oder?“

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Die Legende:

Tsukumogami (付喪神) sind zum Leben erwachte Haushaltsgegenstände der japanischen Folklore. Sie zählen zu den Yōkai.

Das wohl bekannteste Tsukumogami ist der Kasa-Obake (傘おばけ, Japanisch für „Schirmgeist“ oder „Schirmmonster“), ein zum Leben erwachter Regen- oder Sonnenschirm.

Der Name Tsukumogami setzt sich aus den Kanji 付 (haften, befestigen), 喪 (Trauer) und 神 (Geist, Seele, Gott) zusammen. Grob kann man den Namen also mit „Trauer anhaftende Seele“ oder „Trauer anhaftender Geist“ übersetzen.

Aussehen:

Die Tsukumogami ähneln noch immer stark den Haushaltsgegenständen, die sie einst waren – z. B. Regenschirme, Töpfe, Kannen, Kleidung, Futons, Besen oder sogar Schiebetüren. Sie besitzen jedoch häufig menschenähnliche Eigenschaften wie Augen, einen Mund mit meist langer Zunge sowie Arme und Beine inkl. Hände und Füße.

Außerdem weisen sie oft Gebrauchs- und Altersspuren auf, da ein Tsukumogami erst entsteht, wenn ein Haushaltsgegenstand das Alter von 100 Jahren erreicht.

Kasa-Obake:

Um beim Beispiel des Kasa-Obake zu bleiben: Sie sehen meist aus wie aufrecht stehende Papierregenschirme, wie sie in Japan früher häufig benutzt wurden. Statt eines Griffs besitzen sie jedoch ein einzelnes, oft menschlich aussehendes Bein mit einem Fuß. In vielen Darstellungen tragen sie eine einzelne Holzsandale.

Am auffälligsten dürften hingegen ihr einzelnes großes Auge sowie der Mund mit der ungewöhnlich langen Zunge sein, die aus dem Schirm wachsen oder durch Löcher im Papier hervorlugen.

Manchmal besitzen sie auch zwei Arme, die aus dem Schirm wachsen, und/oder ein zweites Bein.

Entstehung:

Der Legende nach entstehen Tsukumogami, wenn ein Haushaltsgegenstand 100 Jahre (oder in einigen Erzählungen 99 Jahre) alt wird.

Laut den meisten Quellen muss er vernachlässigt oder achtlos weggeworfen worden sein, damit das passiert. In diesen Fällen wollen die Gegenstände oft Rache an ihren ehemaligen Besitzern oder den Menschen generell ausüben. Ein anderes beliebtes Motiv, warum der Gegenstand plötzlich zum Leben erwacht, ist Langeweile, da sie nicht mehr genutzt oder gebraucht werden und sonst nichts mit sich anzufangen wissen.

Eigenschaften:

Wenn man in modernen Erzählungen von Tsukumogami hört, sind es meist harmlose Wesen, die den Menschen gerne Streiche spielen. Sie erschrecken sie, machen Lärm, wecken sie nachts o. Ä. Das genaue Verhalten kann sich von Tsukumogami zu Tsukumogami stark unterscheiden.

Man kann ihre Streiche und Phänomene durchaus mit den westlichen Poltergeistern vergleichen, wenn sie z. B. Gegenstände durch die Gegend bewegen, nachts durch den Flur laufen oder an Wände klopfen.

Auch sind sie meist neidisch auf die modernen Haushaltsgeräte, die sie ersetzt haben, weshalb es durchaus vorkommen kann, dass sie das Haus verwüsten oder die Gegenstände zerstören.

Anders sieht es hingegen bei den Tsukumogami aus älteren Erzählungen aus. Vor 500 bis 1.000 Jahren galten die belebten Haushaltsgegenstände noch als blutrünstig und äußerst gefährlich. So kam es nicht selten vor, dass sich ein Tsukumogami in den damaligen Geschichten an den Menschen gerächt hat, die es weggeworfen haben, indem er sie schwer verletzt oder sogar getötet hat.

Kasa-Obake:

Da ich den Kasa-Obake als Tsukumogami für meine Geschichte gewählt und ihn bisher auch beim Aussehen gesondert erwähnt habe, möchte ich euch die spezifischen Eigenschaften der Kasa-Obake natürlich nicht vorenthalten.

Den einbeinigen Schirmen wird nachgesagt, dass sie es lieben, sich an Menschen anzuschleichen, um sie mit ihrer langen Zunge abzulecken. Das kann durchaus erschreckend bis traumatisierend sein, hinterlässt aber keine weiteren Schäden.

Außerdem macht der Geist oft Lärm, während er auf seiner Holzsandale durch die Gegend hüpft, was in einem leeren Haus oder auf verlassener Straße durchaus als beängstigend empfunden werden kann.

Davon abgesehen ist er aber völlig harmlos.

Lebensraum/Vorkommen:

Da es sich bei den Tsukumogami um eine japanische Legende handelt, sollen sie fast ausschließlich in Japan vorkommen. Weitere Einschränkungen bezüglich ihres Lebensraums gibt es jedoch nicht.

Zwar gibt es viele Geschichten, in denen sie in verlassenen Häusern oder Tempeln gesichtet wurden, Tsukumogami können die Häuser jedoch auch verlassen oder außerhalb der Häuser entsorgt worden sein, weshalb sie auch auf offener Straße oder sogar in der Wildnis ihren Schabernack treiben können.

Ursprung:

Die ältesten bekannten Erzählungen von lebendigen Haushaltsobjekten innerhalb Japans stammen aus der Heian-Zeit (794 bis 1185). Damals waren sie jedoch noch nicht unter dem Namen „Tsukumogami“ bekannt. Auch hieß es in damaligen Erzählungen noch häufig, dass der Geist eines Oni oder ein anderes übernatürliches Wesen Besitz von dem Haushaltsgegenstand ergriffen habe.

Ihren Namen erhielten die Tsukumogami erst in der Muromachi-Zeit (1336 bis 1573). Von dort an wurde den Yōkai auch nachgesagt, dass sie ausschließlich von der Seele der tatsächlichen Objekte belebt wurden und nicht länger von bösen Geistern oder Monstern, die Besitz von ihnen ergriffen haben.

Der Glaube, dass auch Dinge wie Haushaltsgegenstände eine Seele besäßen, geht dabei auf die Lehren des Shingon-shū Buddhismus sowie einigen Ideen des Shintoismus zurück, laut denen man auch Gegenstände stets gut behandeln solle.

Ihre Hochzeit hatten die Tsukumogami hingegen erst in der Edo-Zeit (1603 bis 1868), in der unzählige (meist fiktive) Geschichten über sie erzählt und niedergeschrieben worden. In dieser Zeit waren die beseelten Gegenstände außerdem zumeist zu harmlosen Scherzen statt tatsächlichen Rachefeldzügen übergegangen.

Gerade in der späten Edo-Zeit gab es jedoch kaum noch Leute, die an die tatsächliche Existenz dieser Wesen glaubten.

Trotzdem hat der Glaube an die Tsukumogami bis heute überdauert, weshalb sie es bis in die moderne Popkultur geschafft haben.

Tsukumogami in der Popkultur:

Gerade in der japanischen Popkultur gibt es unzählige Filme, Manga, Anime, Kabuki-Stücke und sogar Videospiele, in denen Tsukumogami zu finden sind.

Wenn ich auch nur einen Bruchteil von ihnen hier auflisten wollte, könnte ich wahrscheinlich einen eigenen Blogbeitrag nur darüber schreiben, daher hier nur einige prominente Beispiele:

So lassen sich Tsukumogami z. B. in den „Gegege No Kitarō“-Manga und Anime finden, die sich besonders in Japan an großer Beliebtheit erfreuen.

Darüber hinaus haben die Yōkai diverse Auftritte in dem Manga und Anime sowie der gleichnamigen Videospielreihe „Yo-Kai Watch“, die in Japan kurzzeitig beliebter war als Pokémon.

Und sie haben es sogar in die westliche Popkultur geschafft, wie z. B. die kleinen Nebenrollen eines Besen- und eines Bambusmatten-Tsukumogami in dem Fantasie-Liebesroman „Mona – verliebt, verlobt, beschworen“ (2022) von I. B. Zimmermann zeigen.

Außerdem gibt es ein japanisches RPG/Puzzle-Videospiel von 2012, das den Namen „Tsukumogami“ (oder „99 Spirits“, wie es im Westen heißt) trägt.

Sollte ich in Zukunft über weitere besonders erwähnenswerte Filme, Videospiele etc. stolpern, werde ich sie an dieser Stelle gerne ergänzen.

Was haltet ihr von den Tsukumogami? Glaubt ihr, dass auch Gegenstände Seelen haben können? Wir würdet ihr reagieren, wenn euch ein Kasa-Obake gegenüberstehen würde? Schreibt es in die Kommentare!

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4 Kommentare

  1. Rabbat07 says:

    halluu ^^
    wieder eine sehr interessante Geschichte

    zu den Fragen

    Was haltet ihr von den Tsukumogami?
    -ivh finde das Konzept hinter ihnen sehr interessant, also das mit den hundert Jahren und das Sue z.b. aus Langeweile erwachen

    Glaubt ihr, dass auch Gegenstände Seelen haben können?
    -ne, eher weniger. aber als Kleinkind hatte ich immer (meistens hust hust) versucht mit meinen Gegenständen gut umzugehen, aus Angst Sue „traurig“ zu machen, und hatte irgendwie Mitleid mit ihnen wenn Sue kapput gingen

    Wir würdet ihr reagieren, wenn euch ein Kasa-Obake gegenüberstehen würde?
    -vermutlich die absuchten herausfinden (langweile, Rache, streiche) und dann über weiteres verfahren nachdenken

    • Jeremie Michels says:

      Ich hoffe nur, sie war nicht zu langweilig. Soo viel ist diesmal ja nicht passiert. 😅

      Das Konzept hinter den Tsukumogami mag ich auch sehr. Vor allem, weil es sooo viele Möglichkeiten gibt, eigene Tsukumogami zu erfinden. Ganz davon abgesehen, dass es natürlich schon massig interessante Tsukumogami gibt.

      Das „Problem“ mit dem Gegenstände traurig machen kenne ich hingegen nur von Stofftieren oder sonstigem Spielzeug, das in irgendeiner Form vermenschlicht ist oder ein Lebewesen darstellt. 🤔

      Und ja, das wäre definitiv die richtige Entscheidung. Zwar kenne ich persönlich keine bösartigen Schirm-Tsukumogami, aber Matthew Meyer hat in seinem Betrag über die Kasa-Obake auf yokai.com auch davor gewarnt (und er hat seeehr viel mehr Ahnung von Yōkai als ich. Ich vertrau seiner Einschätzung da voll und ganz. 😂)

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