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Der Gonger Zeichnung von Jeremie Michels. Auf dem Bild ist ein Mann zu sehen, der bei Nebel und Dunkelheit bis zur Hüfte im Meer steht. Seine braune Lederjacke glänzt vor Nässe. Seine Haut ist bleich und er sieht abgemagert aus. Das wohl Auffälligste an ihm sind aber seine Augen, die weiß leuchten, mit denen er den Betrachter direkt ansieht.
Der Gonger (2021)

Der Gonger – Er kommt aus dem Meer

Der Gonger stammt aus deutschen Legenden von Sylt und Amrum. Wie ihr bei der Geschichte sicher merken werdet, ist sie ruhiger geschrieben, als meine anderen Geschichten. Ich muss gestehen, dass sie mir deutlich schwerer fiel, weil ich darin nicht allzuviel Übung habe, hoffe aber, dass sie euch trotzdem gefällt.

Triggerwarnungen

Trauer

Die Geschichte:

Mitten in der Nacht riss mich ein Klingeln aus dem Schlaf. Es war mein Festnetztelefon. Müde, verwirrt und etwas erschrocken sah ich zur Uhr. 00:04 leuchtete mir die kleine Digitaluhr auf meinem Nachttisch in roten Ziffern entgegen.

Kein Wecker hätte mich so schnell aus dem Bett scheuchen können, wie ich heute aufstand. Wer rief mich zu so später Stunde noch an? Mein Handy war nachts ausgeschaltet. Wenn mich jemand um diese Uhrzeit so dringend erreichen wollte, dass er mich über Festnetz anrief, musste es wichtig sein.

Meine nackten Füße klatschten über die Fliesen und das Laminat, während ich ins Wohnzimmer hetzte. Genau in dem Moment, in dem ich die Tür aufstieß, hörte das Telefon auf zu klingeln. Ich konnte gerade noch sehen, wie das Displaylicht erlosch, als ich es erreichte.

Im Dunkeln griff ich blind nach dem Telefon. Das Licht einzuschalten hatte ich in der Aufregung vergessen. Meine Hand verfehlte das Telefon knapp, weshalb ich es fast von der Ladestation stieß. Im letzten Moment konnte ich es noch packen.

Ehe ich jedoch den Anrufverlauf überprüfen konnte, klingelte das Telefon erneut. ‚Kim Handy‘ stand auf dem Display. Ich ging sofort ran.

„Schwesterchen, was ist los?“, fragte ich schnell.

Meine Schwester antwortete mit einem Flüstern: „Marcel. Gott sei Dank! Ich glaube, es ist jemand in meinem Haus. Ich höre Schritte. Scheiße, er kommt her!“

Spätestens jetzt war ich hellwach.

„Versteck dich! Ich komme rüber!“, rief ich ins Telefon, während ich bereits auf dem Weg zum Flur war.

Ich schlüpfte in meine Schuhe, griff nach meinem Schlüsselbund, an dem auch der Schlüssel für Kims Haustür war, und rannte im Schlafanzug nach draußen.

Die kalte Novemberluft schlug mir wie ein Schwall Eiswasser entgegen. Ich ignorierte es und rannte los.

Nebel hatte sich wie ein weißes Tuch über die Küste gelegt und hüllte Sylt in eine Kulisse, die einem Horrorfilm glich. Sogar das vertraute Rauschen der Wellen und des Windes hatten heute etwas Unheimliches an sich. Es erinnerte mich an ein Geflüster in irgendeiner uralten, längst vergessenen Sprache.

Das Haus meiner Schwester stand nur einige Häuser weiter. Ich brauchte keine Minute zu ihr, wenn ich gemächlich ging. Heute war ich in wenigen Sekunden da.

Auf dem Weg zur Haustür fiel mir eine nasse Spur am Boden ins Auge. Es hatte in letzter Zeit nicht geregnet und trotzdem war der Boden hier klitschnass. Die Spur glänzte im schwachen Licht der Straßenlaternen, sodass ich ihr leicht folgen konnte. Sie führte direkt in den Garten – zu Kims nicht verschlossener Hintertür.

Ich entschied, dass dies weder der richtige Zeitpunkt war, sich über das Wasser Gedanken zu machen noch darüber, wie oft ich Kim schon gesagt hatte, dass sie die Hintertür abschließen solle. Stattdessen schnappte ich mir einen Spaten, der am Gartenschuppen lehnte und folgte der nassen Spur ins Haus.

Im Haus war es stockdunkel. Mir schlug sofort der vertraute Geruch nach altem Papier entgegen, der meine Schwester und ihr Haus umgab. Auch wenn er heute nicht die gewohnte Ruhe ausstrahlte.

Im Wohnzimmer und Flur brannte kein einziges Licht. Um den Einbrecher nicht auf mich aufmerksam zu machen, beließ ich es dabei. Also tastete ich mich, so leise ich konnte, an der Wand entlang Richtung Kims Schlafzimmer.

Während ich mich näherte, sah ich, dass durch die offene Tür ein schwaches Licht drang. Von der Helligkeit her tippte ich auf die Nachttischlampe. Bei der Tür angekommen, bestätigte sich meine Vermutung, auch wenn die Lampe das letzte war, auf das ich jetzt achtete.

Mitten im Raum stand ein fremder Mann. Er trug altmodische Kleidung, die vor Nässe tropfte, und eine braune Lederjacke. Sein schwarzes Haar klebte als wirre Frisur nass an seinem Kopf und seine Haut hatte eine ungesunde, fast weiße Farbe.

Dann bemerkte ich Kim. Sie saß auf dem Bett und sah den Mann mit großen Augen an. Hätte ich mir einen Moment Zeit genommen, sie genauer zu betrachten, wäre mir wohl aufgefallen, dass keinerlei Furcht in ihren Augen lag, sondern bloß eine tiefe Besorgnis. Doch ich achtete nicht darauf. Das Wichtigste war, dass es ihr gut ging und sie sich in Sicherheit befand. Für Letzteres würde ich sorgen.

Leise wie eine Katze trat ich aus dem Flur. Ich hob den Spaten, um damit auf den Eindringling loszugehen, und machte bereits einen Satz auf ihn zu.

„Marcel! Stopp! Fass ihn nicht an!“, schrie Kim, als sie mich bemerkte. Ihre Tonlage klang, als hätte sie Angst um den Mann – oder besser gesagt um mich, wie ich später herausfinden sollte.

Ich stoppte in der Bewegung, konnte den Spaten gerade noch anhalten, bevor er den Mann am Kopf traf, und starrte Kim verwirrt an.

Der Mann hingegen hatte sich keinen Zentimeter bewegt. Er drehte nicht einmal seinen Kopf zu mir.

„Ich muss mit dir reden“, sagte Kim ruhig. Sie klopfte auf das Bett neben sich, damit ich mich zu ihr setzte.

Ich blieb reglos stehen, zu verwirrt, um zu reagieren.

„Marcel, bitte. Der Mann ist …“, sie zögerte, „Verwandtschaft.“

Meine Verwirrung wich Unglauben. Es reichte aber, damit ich den Spaten senkte. Kim und ich hatten keine Verwandten. Seit dem Tod unserer Eltern, als ich gerade erwachsen und Kim eine Jugendliche war, hatten wir niemanden mehr – oder etwa doch?

Wortlos ging ich zu ihr. Den Spaten behielt ich in der Hand, während ich mich setzte. Dann betrachtete ich den Mann mit gerunzelter Stirn. Er war etwa in meinem Alter. Vielleicht ein Bruder oder Cousin, von dem wir nichts wussten? Oder ein entfernterer Verwandter vom Festland?

Was mir außerdem sofort auffiel, jetzt, wo ich ihn von vorne sah, waren seine Augen. Sie waren bleich, fast völlig farblos. War der Mann blind? Das würde zumindest erklären, wieso er sich so gut im Dunkeln zurechtgefunden hatte, ohne das Haus zu kennen. Auch erklärte es, wieso er mich nicht angesehen hatte. Was es hingegen nicht erklärte, war, wieso er völlig durchnässt war – auf dem Teppich hatte sich bereits eine große Pfütze gebildet –, es ihn aber überhaupt nicht zu stören schien.

„H-hallo?“, versuchte ich es unsicher. „Ich bin Marcel.“

Keine Antwort.

Hilfesuchend sah ich zu Kim. Mir fiel auf, dass sie unruhig hin und her rutschte. Das tat sie sonst nur, wenn sie nervös war.

Sie räusperte sich. „Du kennst doch noch die alten Legenden, von denen Mama uns früher immer erzählt hat“, begann sie. „Erinnerst du dich zufällig noch an die Gonger?“

„Du meinst doch nicht …?“ Ich glotzte sie mit offenem Mund an. Das konnte nicht ihr Ernst sein. Gonger waren Untote – Zombies, wenn man so will. Sie waren ein Märchen. Eine Gruselgeschichte.

Der Legende nach kehrten Seeleute als Gonger zurück, wenn sie auf hoher See ertranken und ihre Leichen nicht gefunden wurden. Sie stiegen nachts aus dem Meer und suchten ihre Nachfahren heim. Aber sie konnten unmöglich echt sein.

„Ich weiß, was du jetzt sagen willst“, unterbrach meine Schwester den Schwall an Gedanken, der mir durch den Kopf flutete. „Aber sieh ihn dir doch an. Die nasse Kleidung, die bleiche Haut, die Augen …“

Ich schüttelte energisch den Kopf. „Das ist doch bloß ein Kostüm!“ Wütend stand ich auf, den Spaten wieder fest in beiden Händen. „Was wollen Sie? Sind Sie ein Perverser? Macht es Ihnen Spaß, Frauen beim Schlafen zu beobachten?“, fuhr ich ihn an.

Der Mann rührte sich nicht. Er stand bloß da – auch wenn er mich jetzt mit seinen kalten, farblosen Augen musterte. Er war also nicht blind.

„Hören Sie mir mal zu …!“, begann ich, während ich nach seinem Kragen griff. Ehe ich jedoch zupacken konnte, ging Kim wieder dazwischen.

„Marcel! Lass es! Fass ihn nicht an!“, kreischte sie hysterisch. „Gonger sind Wiedergänger. Hast du das etwa vergessen?! Wenn du ihn berührst, stirbst du!“

Das wirkte. Wie hatte Mama gesagt? Wenn man einen Wiedergänger anfasst, entzieht er einem die Lebensenergie. Er macht es nicht mit Absicht, aber man wurde todkrank. Zumindest, wenn man nicht das Glück hatte, dass einem bloß die Hand abfaulte.

Zwar glaubte ich noch immer nicht daran, dass der Mann ein Gonger war, aber war ich bereit, dafür mein Leben zu riskieren? Immerhin war es schon seltsam, dass er klitschnass in ihrem Haus auftauchte. Obwohl es arschkalt draußen war, zitterte er nicht einmal.

Also zog ich meine Hand zurück und schob stattdessen den Spaten vor. Ich drückte dem Mann das Metall mit der dünnen Kante an den bleichen Hals.

„Ich bitte Sie jetzt nur einmal darum: Gehen Sie oder ich rufe die Polizei!“, sagte ich mit fester Stimme.

Hinter mir seufzte Kim laut. „Bruderherz, bitte lass den Quatsch. Ich finde es wirklich lieb, dass du mich beschützen willst, aber wenn wir ihn nicht anfassen, sind wir nicht in Gefahr.“

Ich schnaubte verächtlich. „Ja, klar“, sagte ich sarkastisch. „Weil der Mann ein Gonger ist? Verdammt, es gibt keine Gonger!“

„Sieh dir den Mann noch einmal genau an. Und dann sagst du mir, wie du dich dabei fühlst.“

Ich zögerte, tat dann aber wie geheißen. Ich musterte den Mann von Kopf bis Fuß und Fuß bis Kopf, bis mein Blick wieder an seinen toten Augen hängenblieb. Normalerweise hätte ich wütend sein müssen. Vielleicht auch ängstlich oder angeekelt. Aber ich fühlte mich einfach nur traurig. Ich meine damit kein Mitleid, sondern eine tiefe, einschneidende Traurigkeit – genau wie Mama es in ihren Märchen beschrieben hatte. ‚Gonger strahlen eine unerklärliche Traurigkeit aus‘, hörte ich ihre Stimme in meinem Kopf.

Unsicher ließ ich den Spaten sinken. Aber das … Das war unmöglich. Dieser Mann, dieses Ding vor mir, es war tatsächlich ein Gonger. Ich spürte es.

Nachdem ich den Schock überwunden hatte, überlegten wir, was wir mit dem Gonger tun sollten. Wenn die Legenden stimmten, wäre heute nicht der letzte Tag, an dem er uns besuchen kommt. Um genau zu sein, würde er fortan jede Nacht bei uns auftauchen. So lange, bis wir herausgefunden haben, wer er zu Lebzeiten war.

Wenigstens wussten wir, dass er ein Vorfahre von uns sein musste. Immerhin suchten Gonger nur ihre Nachfahren heim. Außerdem hieß es, dass sie oft erst zwei oder drei Generationen nach ihrem Tod auftauchten. Wenn das stimmte, musste er also unser Uropa oder Ururopa sein.

Vielleicht fragt ihr euch jetzt, wie wir herausfinden sollten, wer er war, wenn wir keine Familie mehr hatten, die wir fragen konnten. Aber Kim und ich hatten einen entscheidenden Vorteil: Seit dem Tod unserer Eltern erforschte meine Schwester unseren Stammbaum, in der Hoffnung, irgendwo noch lebende Verwandte zu finden. Sie hatte über die Jahre viele Unterlagen gesammelt. Bis auf drei Personen – zwei Ururgroßmütter und einem Ururgroßvater – kannte sie den gesamten Stammbaum der letzten vier Generationen.

Kim stand sofort auf, um ihre Aufzeichnungen zu holen. Sie ließ mich einen Moment mit dem Gonger allein. Ich musterte ihn, während ich wartete. Wie er so reglos dastand, sah er tatsächlich aus wie eine Leiche. Lediglich seine Augen verrieten, dass er noch nicht 100%ig tot war. Nicht nur, weil sie sich ab und an bewegten, sondern auch, weil diese tiefe Traurigkeit in ihnen lag. Sie sahen aus, als gehörten sie einem Menschen, der aufgegeben hatte. Voller Schmerz und Leid.

Ehe ich mich in meinen Gedanken verlieren konnte, ertönte ein Drucker aus Kims Arbeitszimmer. Kurz darauf kam sie mit einem frisch gedruckten Stammbaum zurück.

Unser Plan war simpel: Kim las die Namen vor, während ich auf jede noch so kleine Reaktion des Gongers achtete.

Wir hatten – wie jeder Mensch – vier leibliche Urgroßväter und acht Ururgroßväter. Einer von ihnen war unbekannt. Also hatten wir elf Namen. Elf Versuche, dem Gonger seinen lang ersehnten Frieden zu bringen.

„Johann Fischer. Gustav Hansen. Richard Baggendorf“, las Kim langsam vor. Sie machte nach jedem Namen eine kurze Pause, doch der Gonger zeigte keine Reaktion.

Nach dem sechsten Namen bekam ich erste Zweifel. Und auch Kim warf dem fremden Mann in ihrem Schlafzimmer nach jedem weiteren Namen nervösere Blicke zu. Er blieb reglos.

Als sie schließlich den elften und letzten Namen vorlas, geschah … nichts. Der Gonger hatte bei keinem einzigen Namen auch nur gezuckt oder irgendwelche Emotionen gezeigt.

Ratlos sahen wir einander an, bis Kim schließlich die Stimme erhob. Sie sprach aber nicht zu mir, sondern zu dem Gonger. „Entschuldigen Sie, mein Herr. Ich weiß, wir waren heute keine Hilfe, aber ich verspreche Ihnen, dass wir herausfinden werden, wer Sie sind. Schließlich sind wir Familie. Wir helfen einander. Kommen Sie in einer Woche zurück, dann wissen wir vielleicht mehr.“ Sie lächelte schüchtern.

Der Gonger musterte sie. Fast hätte ich damit gerechnet, dass er nickte und sich umdrehte. Aber natürlich blieb er stehen.

Kim ignorierte ihn. Stattdessen erklärte sie mir ihren Plan: Wir beide würden uns die nächsten Tage zusammensetzen, um mehr über unsere Ahnen herauszufinden. Sie vermutete, dass es nicht reichte, stumpf die Namen zu sagen. Wir mussten herausfinden, wer der Gonger war, ihm sagen, wie er gestorben war, vielleicht sogar, wie er gelebt hatte.

Natürlich gab es auch die Möglichkeit, dass er unser unbekannter Ururopa war – der einzige Mann der letzten vier Generationen, über den Kim in fast zehn Jahren Recherche nichts herausfinden konnte. Aber über diese Möglichkeit wollten wir lieber nicht nachdenken.

Als alles geklärt war – der Gonger stand noch immer reglos im Zimmer – schickte Kim mich ins Bett. Ich protestierte, muss aber gestehen, dass ich ziemlich müde war.

„Du musst ausgeschlafen sein, wenn wir die Unterlagen durchgehen“, sagte sie.

Natürlich hatte sie recht. Wenigstens erlaubte sie mir, im Gästezimmer zu schlafen. Auch wenn von dem Gonger keine Gefahr auszugehen schien, wollte ich sie mit diesem Ding im Haus auf keinen Fall allein lassen.

Am nächsten Morgen wurde ich von Kim geweckt. Der Gonger war weg, also machten wir uns sofort an die Arbeit. Wir hatten genau eine Woche für unsere Recherche Zeit.

Gemeinsam durchforsteten wir die Dokumente und Unterlagen, die Kim über die Jahre gesammelt hatte. Es war eine beachtliche Sammlung aus handschriftlichen Notizen, Briefen, Zeitungsartikeln, Logbüchern, Sterbeurkunden und sogar einem Tagebuch.

Da das meiste jedoch völlig unsortiert war, verschwendeten wir zwei ganze Tage nur mit Sortieren. Dann begann die richtige Arbeit. Kim nahm sich die väterliche Seite vor, ich mir die mütterliche.

Zu unserer Überraschung fanden wir recht schnell heraus, dass es nur eine einzige Person in unserer Familie gab, die auf dem Meer verschollen war: August Seemann. Die Tode unserer Vorfahren waren erstaunlich gut dokumentiert. Ein Zweiter war zwar ertrunken, aber seine Leiche konnte geborgen werden. Er kam als Gonger also nicht in Frage.

Mit unserer Recherche waren wir nach nur fünf Tagen fertig. Wenn wir recht behalten sollten, gab es nur eine einzige Möglichkeit, wer der Gonger sein konnte – zumindest wenn man den unbekannten Ururopa nicht bedachte.

Gähnend erhob ich mich aus dem Stuhl. „Alles klar, Schwesterchen. Dann mach ich mich mal auf den Heimweg. Wir haben noch zwei Tage, bis August zurückkommt“, sagte ich zuversichtlich.

Sie räusperte ich. „Warte!“ Ich sah, wie die auf ihrem Stuhl hin und her rutsche.

„Was ist?“, fragte ich misstrauisch. Ich merkte sofort, dass sie mir etwas verheimlicht hatte.

„Na ja. Du weißt doch, wie ich den Gonger aufgefordert habe, erst nach einer Woche wiederzukommen“, sagte sie kleinlaut. „Er hat sich nicht dran gehalten.“

„Was!?“, fuhr ich sie an.

„Er war seitdem jede Nacht hier“, gestand sie. Sie traute sich kaum, mir in die Augen zu sehen.

„Aber … Wieso hast du denn nichts gesagt?“, fragte ich. Kim wusste doch, dass sie mir alles sagen konnte.

„Ich …“ Kim schluckte. „Ich wollte nicht, dass du herkommst. Wenn du weit genug von ihm weg bist, kannst du ihn nicht aus Versehen berühren. So warst du in Sicherheit.“ Tränen stiegen ihr in die Augen. „Ich kann dich nicht auch noch verlieren!“

„Heee“, sagte ich. Ich war sofort bei ihr und nahm sie fest in den Arm. Sie verbarg ihr Gesicht in meinem Pulli.

Natürlich machte auch ich mir Sorgen um sie. In meinem Kopf zeichneten sich Bilder ab, wie der Gonger sie versehentlich berührte. Kim hätte in den vergangenen Nächten sterben können. Ich hätte nicht einmal gewusst, was passiert war. Trotzdem schob ich meine Ängste beiseite, um beruhigend auf sie einzureden. „Du wirst mich nicht verlieren, verstanden? Pass auf, wir warten jetzt gemeinsam, bis der Gonger auftaucht. Dann können wir August von seinem Leben erzählen und der Spuk hat endlich ein Ende.“

Und genau das taten wir. Zum Glück war es schon spät, weshalb wir nicht lange warten mussten, aber es verging genug Zeit, damit Kim einschlief. Ich dachte darüber nach, wie viel sie wohl die letzten Nächte geschlafen hatte. Sie musste eine riesen Angst gehabt haben, wenn der Gonger bei ihr im Haus war. Und dann war da noch die Zeit, die sie wach war, um heimlich den Boden zu trocknen und die Wasserspur aufzuwischen …

Ein schmatzendes Geräusch von draußen riss mich aus den Gedanken. Erst war es sehr leise, aber es kam schnell näher: schmatzende Schritte von nassen Schuhen.

„Kim! Hey Kim!“, weckte ich meine Schwester.

Sie blinzelte mich müde an, dann hörte sie es auch. Sofort saß sie kerzengerade auf ihrem Sessel.

Mit einem Quietschen öffnete sich die Hintertür. Der Gonger trat ein, als gehöre das Haus ihm. Er sah sich mit seinen bleichen Augen kurz um, bevor er zu uns ins Wohnzimmer kam.

„Guten Abend“, begrüßte ich ihn. Ich zwang mich dazu, möglichst freundlich zu lächeln. „Bist du August Seemann? Der Seefahrer?“

Er sah mich an, zeigte ansonsten jedoch keine Reaktion. Aber er hatte ja auch letztes Mal schon nicht reagiert, als wir ihm bloß den Namen genannt hatten.

Kim und ich gaben unser bestes, das Leben und den Tod von August Seemann chronologisch darzustellen. Er war auf einer christlichen Schule gewesen. Seine Eltern waren streng, aber er hatte sie trotzdem sehr geliebt. Mit 19 hatte er schließlich seine zukünftige Frau kennengelernt, die er mit 22 heiratete. Sie hatten eine gemeinsame Tochter, die er jedoch nicht aufwachsen sah, weil er mit 28, als seine Tochter 4 Jahre alt war, auf hoher See verschwand. Seine Leiche wurde nie geborgen.

Ich sah den Gonger erwartungsvoll an. Irgendetwas musste er doch tun. Aber er bewegte sich keinen Zentimeter. Das hieß …: Er war nicht August Seemann.

Wut kochte in mir hoch. Vor meinem inneren Auge malten sich Bilder aus, wie Kim verängstigt im Bett saß und den Gonger beobachtete, der in ihrem Zimmer stand. Nacht für Nacht würde sie dasselbe erleben. Als ich es nicht länger aushielt, sprang ich auf. „Das ist doch alles Scheiße!“, fluchte ich. „Kannst du nicht jemand anderen heimsuchen? Wir haben alles versucht. Wir wissen nicht, wer du bist! Verschwinde einfach!“

Aber auch darauf reagierte der Gonger nicht. Natürlich reagierte er nicht! Ich begann langsam daran zu zweifeln, ob er überhaupt unsere Sprache sprach.

Kim war inzwischen ebenfalls aufgestanden. Sie legte mir beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Hey, wir schaffen das schon irgendwie. Wir setzen uns morgen wieder hin und gehen die Unterlagen noch einmal komplett durch. Vielleicht finden wir ja doch irgendeinen Hinweis aus unseren fehlenden Ururopa.“

„Und wenn er das gar nicht ist?“, fragte ich noch immer aufgebracht. „Wer sagt dir, dass er nicht bloß irgendeine Affäre war. Dann werden wir seinen Namen nie herausfinden!“

Kim starrte mich mit offenem Mund an. Zuerst dachte ich, sie sei verwundert, weil sie Pessimismus von mir nicht gewohnt war, doch dann fiel sie mir plötzlich um den Hals. „Marcel, du bist genial!“, rief sie.

Während sie ins Arbeitszimmer rannte, starrte ich ihr ungläubig nach. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Es dauerte nicht lange, bis sie mit einem alten Buch in den Händen zurückkam, das aussah, als würde es jeden Moment auseinanderfallen.

„Das ist das Tagebuch von Margarete Fischer, unserer Ururoma“, erklärte sie. „Ich habe es nicht weiter beachtet, weil ihr Mann, Johann Fischer, an Altersschwäche gestorben ist, aber es gab da noch jemand anderen: einen Jugendfreund namens Kurt Andersen.“

Genau in dem Moment, als Kim den Namen aussprach, fixierte der Gonger sie mit seinen Augen. Er gab ein leises Röcheln von sich, als versuche er zu seufzen.

„Kurt Andersen war ein Jugendfreund“, wiederholte Kim. „Aber sie waren auch im Erwachsenenalter noch gut befreundet gewesen. Sogar, als Margarete schon verheiratet war. In dem Tagebuch steht zwar nichts von einer Affäre, aber vielleicht hatte sie es bloß nicht erwähnt, aus Angst, dass ihr Mann es lesen könnte. Denn was es auch war, eine Freundschaft oder Beziehung, so wie sie von Kurt schreibt, muss sie ihn sehr geliebt haben. Nachdem sein Schiff mit ihm und seiner gesamten Crew auf hoher See verschollen war, hatte sie lange getrauert.“ Jetzt sah sie dem Gonger fest in die Augen. „Seid ihr … Bist du Kapitän Kurt Andersen?“

Der Gonger verzog das Gesicht. Es sah fast aus wie ein Lächeln. Dann schloss er die Augen, als würde er Margarete und seiner Mannschaft für einen Moment gedenken. Als er sie wieder öffnete, lag noch immer diese Traurigkeit in ihnen, aber da war noch etwas anderes. Ein Gefühl, dass er seit Ewigkeiten nicht mehr gefühlt hatte: Dankbarkeit.

Eigentlich war es unmöglich, zu sagen, bei all dem Wasser, das noch immer aus seinen Haaren tropfte, aber ich glaubte sogar, eine Träne zu sehen, die sich aus seinem Auge löste.

Vorsichtig tat er einige Schritte auf Kim zu. Ich war so gebannt von der Veränderung, dass ich zu spät reagierte, als er seine Hand hob. Zum Glück war Kim schneller.

„Nein! Nein, nicht!“, sagte sie schnell, während sie sich an die Rückenlehne presste, weg von der erhobenen Hand.

Der Gonger zog seine Hand sofort zurück. Seine Finger waren nur wenige Millimeter von Kims Schulter entfernt gewesen. Sie entging ihrem Tod im wahrsten Sinne des Wortes um eine Haaresbreite.

Kurz gewann die Traurigkeit in Kurt Andersens Augen wieder die Oberhand, doch sie machte schnell wieder Dankbarkeit Platz. Vorsichtig trat er einen Schritt zurück, um etwas Abstand zwischen sich und Kim zu bringen. Er nickte ihr kurz zu, sah sie ein letztes Mal mit seinen bleichen Augen an, drehte sich zur Tür und verschwand nach draußen in die Dunkelheit.

Das war das letzte Mal, dass wir Kurt Andersen gesehen haben. Aber ich denke noch oft an ihn. Damals war ich noch hauptsächlich verwirrt oder wütend, aber inzwischen bin ich glücklich. Wir hatten seiner ruhelosen Seele geholfen, endlich Frieden zu finden.

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Die Legende:

Die Gonger (im Plural auch „Gongers“) sind Wiedergänger des nordfriesischen Volksglaubens. Sie steigen nachts aus ihren Gräbern oder dem Ozean, um die Lebenden heimzusuchen.

Aussehen:

Als Wiedergänger sind Gonger keine Geister, sondern Untote. Sie besitzen also einen Körper. Aus diesem Grund tragen sie die Kleidung, in der sie gestorben sind oder beerdigt wurden.

Handelt es sich um Ertrunkene, die im Meer verschollen sind, sollen sie außerdem nass vom Meerwasser sein, aus dem sie nachts steigen.

Entstehung:

Die Gründe, wieso ein verstorbener Mensch als Gonger zurückkehrt, können sich stark unterscheiden. Zum Beispiel kann es daran liegen, dass er nicht fachgerecht bestattet wurde, er ermordet wurde oder er im Leben gesündigt hat.

So wird ertrunkenen Seemännern, deren Leichen nicht geborgen wurden, sie also nicht beerdigt werden konnten, oft nachgesagt, als Gonger zurückzukehren. Aber auch Selbstmörder, Gotteslästerer, Ungläubige und andere Sünder sollen nach ihrem Tod als Strafe Gottes zu einem Dasein als Gonger verdammt worden sein.

Eigenschaften:

Wie sich ein Gonger verhält, hängt stark davon ab, aus welchem Grund er untot auf der Erde wandelt.

Wenn der Leichnam falsch bestattet wurde, versucht der Gonger darauf aufmerksam zu machen, damit die Beerdigung im Nachhinein berichtigt werden kann und er seine Ruhe findet.

Handelt es sich bei ihm um einen Unschuldigen, der ermordet wurde, kommt er zurück, um sich für seinen Tod zu rächen. Manchmal rächen Gonger sich jedoch nicht bei ihrem Mörder selbst, sondern erst bei dessen Nachkommen. So kann die Familie eines Mörders auch zwei oder drei Generationen später noch in Gefahr sein.

Hierbei töten die Gonger ihre Opfer meist durch eine Berührung – denn wie auch bei anderen Wiedergängern, entzieht ihre Berührung den Lebenden die Lebensenergie. Wenn man einem Gonger die Hand schüttelt, soll die eigene Hand schwarz werden und abfallen, weil sie augenblicklich verbrennt oder verfault. Was eine solche Berührung am Hals, der Brust oder dem Kopf verursachen würde, kann sich wohl jeder selbst ausmalen.

Die wohl bekannteste Art der Gonger sind hingegen ertrunkene Seeleute. Sie kehren zu ihrer Familie zurück oder besuchen ihre Nachfahren, um ihnen so ihren Tod mitzuteilen. Sie steigen nachts aus dem Meer, gehen zum Haus ihrer Verwandten, wo sie – falls es noch an ist – das Licht löschen und sich zu einem Lebenden auf die Bettdecke legen. Am nächsten Morgen findet man bloß die von Salzwasser Getränke Bettdecke und manchmal nasse Fußabdrücke am Boden vor.

Bei näheren Verwandten wie dem Ehepartner, den Eltern oder den Kindern ist der Spuk schnell vorbei: Es reicht aus, wenn sie verstehen, dass der Seemann tot ist und nicht mehr zurückkommen wird, damit der Gonger seine Ruhe findet.

Schwieriger wird es hingegen, wenn er sich erst seinen Nachfahren zeigt, denn die Gonger warten manchmal zwei oder drei Generationen, bevor sie aus dem Meer steigen. In diesem Fall müssen die Betroffenen in der Vergangenheit ihrer Familie forschen und herausfinden, wer der Verstorbene war. Erst, wenn sie seinem Tod gedenken, hört der Gonger auf, sie nachts zu besuchen.

Eine weitere Eigenschaft dieser Art von Gonger ist die Traurigkeit, die sie ausstrahlen. Es heißt, dass man sich grundlos traurig fühlt, wenn man sich in ihrer Nähe aufhält.

Lebensraum/Vorkommen:

Die Sagen um die Gonger sind hauptsächlich auf den norddeutschen Inseln Sylt und Amrum verbreitet. Daher sollen sie auch hauptsächlich dort vorkommen.

Ursprung:

Wie bei den meisten deutschen Legenden findet man im Internet nicht allzu viele Informationen zu den Gonger. Den genauen Ursprung habe ich daher nicht herausfinden können.

Da Legenden um Wiedergänger in Deutschland jedoch sehr verbreitet waren, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Gonger-Legende durch die Geschichten der anderen Wiedergänger vom Festland auf die Inseln gelangt ist und sich dort verbreitet hat.

Was haltet ihr von den Gonger? Wie würdet ihr reagieren, wenn plötzlich ein fremder Mann völlig durchnässt in eurem Schlafzimmer auftaucht? Schreibt es in die Kommentare! (Außerdem würde mich ein kurzes Feedback freuen, wie ihr die Geschichte fandet. Seid bitte ehrlich: Ist sie stellenweise langweilig/zu langatmig? ^^‘)

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5 Kommentare

  1. Olivia schreibt:

    Also ich finde deine Geschichte gut, weder langweilig noch langatmig… 👍
    Also ich würde mich auf jeden Fall gruseln, gottseidank gibt es sowas bei uns in Österreich nicht… 😅
    Bitte schreib weiter solche Geschichten!

    • Jeremie Michels schreibt:

      Danke. Das freut mich! 😄
      Aber ich bin mir sicher, dass es in Österreich so einige andere gruselige Legenden gibt. Vielleicht sollte ich mich da mal etwas mehr informieren und für meine österreichische Leserschaft eine eigene Kategorie (österreichische Legenden) machen. 🤔

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