„Das Monster im Wald“ ist der Gewinner einer kleinen Abstimmung, die ich anlässlich des 4. Geburtstags von Geister und Legenden durchgeführt habe. Diesmal geht es nicht um eine Legende, sondern um ein Wesen, das meinem eigenen Kopf entsprungen ist. Ich hoffe, die Geschichte gefällt euch.
Viel Spaß beim Gruseln!
Triggerwarnungen
– Blut
– tote Waldtiere
Inhalt
Die Geschichte:
Ich kam mit meinem Schulranzen auf dem Rücken ins Wohnzimmer geeilt. Mama und Papa saßen bereits am Tisch und tranken in aller Seelenruhe ihren Morgenkaffee, während ich mir in Rekordzeit ein Müsli mit Hafermilch einfüllte.
„Im Wald wurde wieder ein totes Reh gefunden“, erklärte Papa ruhig. Er schielte hinter seiner Zeitung hervor zu mir rüber. „Auf der Lichtung, wo ihr als Kinder immer gespielt habt. Weißt du noch? Bei der alten Eiche.“
Ich nickte. Zu mehr war ich mit meinem vollen Mund nicht fähig.
Das ging nun schon mehrere Monate so. Fast wöchentlich, manchmal sogar häufiger, tauchten im Wald Kadaver auf. Erst waren es bloß Hasen und andere kleinere Tiere. Einmal war sogar ein Fuchs dabei. Inzwischen war, was auch immer die Tiere jagte, jedoch zu größerer Beute übergegangen. Trotzdem wusste niemand, was dort im Wald sein Unwesen trieb. Viele redeten inzwischen von einem Monster.
Ich hatte jedoch andere Sorgen: Mir entging nicht, wie Papa kaum merklich die Nase rümpfte, als sein Blick auf den Karton mit der Hafermilch fiel. Schnell sah er wieder in seine Zeitung.
Es war schon ewig her, dass Papa mich angesehen hatte. Dass er mich richtig angesehen hatte, seinen Sohn, auf den er stolz war. Versteht mich nicht falsch: Er unternahm noch allerlei Dinge mit mir. Genau wie früher nahm er mich oft mit auf die Jagd, wir sahen zusammen Filme am Fernseher und spielten gelegentlich Brettspiele mit Mama.
Trotzdem hatte ich nicht das Gefühl, dass wir einander noch wirklich nahestanden. Nicht, seit ich entschieden hatte, vegan zu leben. Der Sohn eines Jägers – ein Veganer. Ich konnte mir gut vorstellen, welchen Spott er meinetwegen in seinem Jagdverein abbekommen musste. Aber das würde sich bald ändern. Sollte ich mit meinem Plan Erfolg haben, würden die anderen ihn bald für seinen Sohn bewundern. Dann war ich nicht länger der Sohn, der nicht einmal die Tiere essen wollte, die sein Vater jagte, sondern der Sohn, der das Monster im Wald getötet hatte.
Mein Blick fiel auf meine Armbanduhr. Verdammt! Ich war spät dran.
„Ich muss los“, sagte ich, ehe ich mir hastig noch zwei weitere Löffel Müsli in den Mund stopfte. Dann eilte ich in den Flur.
„Warte. Ich begleite dich zur Tür“, rief Mama mir nach. Sie holte mich ein, während ich mir die Schuhe zuband.
Sofort reichte sie mir meine Jacke und ließ sich nicht die Gelegenheit nehmen, mir durch meine Locken zu wuscheln.
Ich duckte mich unter ihrer Hand weg. „Wir sehen uns später.“
„Lass dich nicht ärgern“, erwiderte sie. Sie schenkte mir ihr wärmstes Lächeln. „Hab dich lieb.“
„Ich dich auch“, sagte ich. Dann eilte ich nach draußen. Heute wollte ich wirklich nicht zu spät kommen.
Vor der Tür erwartete mich jedoch bereits das nächste Hindernis: Frau Richter – unsere Nachbarin.
„Ahh. Florian! Gut, dass ich dich treffe“, empfing sie mich.
Sie war eine dieser typischen Tratschtanten, wie man sie sonst nur aus Büchern oder Filmen kannte. Sie wusste über alles im Dorf Bescheid und redete oft so schnell, dass man Probleme hatte, ihren ständigen Themenwechseln zu folgen. Anscheinend war sie gerade dabei, ihre Zeitung reinzuholen, auch wenn mich das Gefühl beschlich, dass sie auf mich gewartet hatte.
„Es geht um deinen Vater“, legte sie ohne jegliche Art der Begrüßung los. „Er geht doch immer im Wald jagen. Wusstest du, dass sie schon wieder ein totes Reh gefunden haben? Helga meinte, dass nicht mal ihr Mann Dr. Novak sagen konnte, welches Tier das arme Ding gerissen hat. Und er ist immerhin Arzt. Aber es war wohl alles ziemlich zerfetzt. Er habe so etwas noch nie gesehen. Und da dachte ich, was, wenn die Leute recht haben und sich wirklich ein Geist in unserem Wald rumtreibt? Der arme Peer ist doch damals im Wald verschwunden. Was, wenn seine ruhelose Seele zurückgekehrt ist, um sich an den Lebenden zu rächen? Es ist bestimmt nur eine Frage der Zeit, bis ihm der erste Mensch zum Opfer fällt. Deswegen sollte dein Vater es sich wirklich zweimal überlegen, ob er das Risiko weiter eingehen …“ Weiter kam sie nicht.
„Guten Morgen Frau Richter“, hörte ich Mamas Stimme hinter mir. Sie musste unsere Nachbarin bemerkt haben und mir zur Hilfe geeilt sein.
Sofort verlagerte sich Frau Richters Aufmerksamkeit. „Johanna! Wir haben uns in letzter Zeit immer verpasst!“, fiel sie sofort über Mama her. Sie war wie ein Geier, der sich auf ein totes Tier stürzte. Ein sehr unfreundlicher Geier ohne jeglichen Sinn für Taktgefühl oder Höflichkeit. „Ich wollte mit dir schon ewig über euren Rasen sprechen. Ist euer Rasenmäher defekt? Das sieht ja nicht schön aus … Die Nachbarn reden schon und …“
Ich hörte ihr nicht länger zu. Nachdem ich mich noch schnell Mama zugewandt hatte, um ihr ein stummes „Danke“ zuzuflüstern, machte ich mich sofort auf den Weg. Frau Richter ließ es geschehen. Sie hatte ein neues Opfer gefunden.
Als ich außer Sichtweite war, rannte ich aber nicht wie gewöhnlich die Straße runter zur Bushaltestelle, sondern bog mit einem verstohlenen Blick über die Schulter in eine Seitenstraße ab.
In der Ferne sah ich zwei Gestalten stehen. Klara und Lars warteten bereits auf mich.
„Da bist du ja endlich. Wir dachten schon, du kneifst“, meinte Klara mit einem neckischen Zwinkern.
Ich grinste sie an. „Quatsch. Ich musste nur meine Nachbarin abwimmeln.“
„Frau Richter?“, meldete sich Lars zu Wort. Er grinste ebenfalls. „Na dann können wir froh sein, dass du es so früh geschafft hast.“
Dann wurden unsere Gesichter ernst. Ich warf dem Wald, dessen Bäume wir am Ende der Straße sehen konnten, einen misstrauischen Blick zu.
„Wir ziehen das also wirklich durch?“, fragte Klara. Sie hatte die Stirn gerunzelt, als sei sie sich darüber nicht ganz sicher.
Ich nickte. „Ja. Das heißt, falls ihr noch mitmachen wollt …?“
Die beiden nickten ebenfalls.
„Gut“, sagte ich. Ich hoffte, dass man mir meine Nervosität nicht ansah. Aber was sollte schon schiefgehen? Wir hatten immerhin eine Waffe.
Ohne weitere Umschweife führte ich die beiden die Straße entlang bis in den Wald hinein. Wir gingen nur ein kurzes Stück, bis wir hinter einem Schild, dass einen Wanderweg markierte, nach links abbogen und im Dickicht verschwanden.
Ich fand den hohlen Baumstumpf auf Anhieb. Sofort ging ich hin, fischte mit dem Arm darin herum und holte schließlich eine längliche Stofftasche aus seinem Inneren. Ich sagte kein Wort, während ich die Waffe auspackte, warf meinen Freunden aber einen vielsagenden Blick zu. Das hier war der ultimative Beweis, dass ich es wirklich ernst meinte.
„Du hast die Waffe hier gelassen? Unbeaufsichtigt?“, fragte Lars entsetzt.
Ich zuckte mit den Schultern. „Nur über Nacht. Ich hätte sie wohl kaum heute Morgen rausschmuggeln können. Hey Papa, ich nehm dein Gewehr mit zur Schule, ja? Gut. Wir sehen uns später!“
Lars zog eine Grimasse.
Ich wusste ja selbst, wie unverantwortlich das war, aber wenn wir unseren Plan wirklich durchziehen wollten, hätten wir keine andere Möglichkeit gehabt. Ich ging bestimmt nicht unbewaffnet auf Monsterjagd.
Meine Freunde beobachteten mich mit einer Mischung aus Unwohlsein und Neugierde, während ich den Lauf überprüfte, das Gewehr lud und es schließlich sicherte. Natürlich hielt ich den Lauf dabei Richtung Boden von meinen Freunden weg, wie Papa es mir beigebracht hatte.
„Wir können“, sagte ich schließlich.
„G-gut“, erwiderte Klara. Sie hatte Schwierigkeiten, ihren Blick vom Gewehr zu lösen. „Wo fangen wir an zu suchen?“
—
Wenig später waren wir auf dem Weg zur Lichtung, auf der die alte Eiche stand. Unsere Schulranzen hatten wir bei dem Baumstumpf zurückgelassen. Ich hatte meinen Freunden erzählt, was Papa mir am Frühstückstisch gesagt hatte. Und ich hatte auch erzählt, dass meine Nachbarin meinte, das Monster im Wald sei der Geist von Peer.
Wir alle wussten von Peer Jakobs. Es war jetzt ein, vielleicht anderthalb Jahre her, dass er verschwunden war. Aber auch, wenn es seitdem zahlreiche unschöne Gerüchte um ihn gab – eines davon war, dass er im Wald gestorben sei – waren Mama und Papa der Meinung, dass er still und heimlich umgezogen war. Er hatte das Landleben nie gemocht. Und wenn er gestorben wäre, hätte man inzwischen sicher seine Leiche oder zumindest irgendwelche Überreste davon gefunden. Besonders bei der riesen Suchaktion, die das Dorf damals veranstaltet hatte.
Nein, ich war mir sicher: Was auch immer die Tiere im Wald getötet hatte, war ganz sicher nicht sein Geist gewesen.
Auf dem Weg zur Lichtung fiel mir mal wieder auf, wie friedlich der Wald war. In den Bäumen stimmten verschiedenste Vögel ihre Symphonie an. Ein sanfter Wind streichelte durch die Blätter und trug ihre Stimmen durch den Wald. Irgendwo in der Ferne hämmerte ein Specht gegen einen Baum. Ab und an konnte ich sogar das Summen von Insekten hören, die allmählich den Frühling anstimmten.
Abgerundet wurde das alles von dem sanften Duft nach feuchter Erde, Nadelbäumen und einem gelegentlichen Hauch von Blumen, auch wenn ich nur selten ihre weißen und lila Köpfe zwischen den grünen Gräsern, Ästen und trockenen Blättern sehen konnte.
Plötzlich blieb Klara vor mir stehen. Sie ging fast automatisch in die Knie und hielt Lars und mir einen erhobenen Zeigefinger entgegen. Dann raschelte es in einiger Entfernung im Unterholz. Sofort drehte ich mich in die Richtung, aber abgesehen von wackelnden Ästen konnte ich nichts erkennen. Das Gewehr hatte ich nicht gehoben.
Ich sah wieder zu Klara. „War da was?“, flüsterte ich.
Sie sah irritiert aus und konnte den Blick selbst dann nicht von der Stelle lösen, als sie sich langsam wieder aufrichtete. „Ich weiß nicht“, sagte sie in normaler Lautstärke. „Ich glaube, ich habe jemanden gesehen.“
„Jemanden?“, fragte Lars. „Oder etwas?“
„Jemanden. Da war ein Mann, glaube ich.“
In meinem Kopf schrillten sofort alle Alarmglocken. Wenn der Mann mich mit dem Gewehr gesehen hatte … Ich wusste natürlich, dass die Gefahr bestand, dass Papa bemerkte, dass ich mir eines seiner Gewehre ausgeliehen hatte. Aber noch war es zu früh. Wir hatten noch nicht einmal die Gelegenheit gehabt, das Monster zu suchen. Also setzte ich alles auf eine Karte.
„Hallo?“, rief ich laut in den Wald hinein. „Können Sie uns helfen?“ Ich wollte so tun, als hätte mein Vater mir das Gewehr freiwillig anvertraut.
Plötzlich griff Klara nach meinem Unterarm. Als ich sie fragend ansah, schüttelte sie den Kopf. „Ich denke nicht, dass er zurückkommt. Der Mann war nackt.“
„Bitte?“, platzte es aus Lars heraus. „Du verarschst uns!“
Ich hingegen musste grinsen. „Dann haben wir Glück gehabt. Wenn das irgendein Perverser war, verpfeift er uns bestimmt nicht bei unseren Eltern.“
Als ich jedoch wieder Klara ansah, erstarb mein Lächeln. Ihr Blick war todernst. „Ich … Ich weiß nicht. Seine Hände waren schmutzig. Es sah fast aus wie … wie getrocknetes Blut.“
Lars und ich tauschten ernste Blicke aus. Meine Gedanken rasten. Getrocknetes Blut? Wollte sie uns doch auf den Arm nehmen?
„Bist du dir sicher?“, fragte ich vorsichtig nach. „Dass es Blut war, meine ich.“
Aber Klara schüttelte wieder den Kopf. „Nein“, gestand sie.
Wir standen eine Weile schweigend da. Erst starrte ich in die Richtung, aus der das Rascheln gekommen war, dann sah ich wieder zu Klara. Ihre Augen suchten den Wald ab, als erwarte sie, den Mann irgendwo zu finden.
Ehe ich jedoch fragen konnte, was in ihrem Kopf vorging, bemerkte sie meinen Blick. Sie sah erschrocken auf, als hätte ich sie bei etwas Verbotenem ertappt. Dann wechselte ihre Miene zu einem Ausdruck, der „Ist irgendetwas?“ fragte. Alles in kaum mehr als einer Sekunde.
„Wir sollten weiter“, sagte sie schließlich, während sie sich abwandte. „Wir sind gleich da.“
Ich runzelte die Stirn. Da mir jedoch nichts Besseres einfiel, folgte ich ihr schweigend. Lars hielt sich dicht hinter uns.
Aber obwohl sich an unserer Umgebung nicht viel geändert hatte, machte der Wald jetzt einen anderen Eindruck auf mich. Die Vogelstimmen hatten ihre Harmonie verloren. Jetzt klangen sie eher, als würden sie miteinander streiten. Und auch das Hämmern des Spechts klang brutaler, als wolle er den gesamten Baum zerhacken.
Wenigstens blieb der Geruch wie vorher. Er hatte eine beruhigende Wirkung auf mich. Zumindest, bis sich bald der süßliche Duft der Verwesung unter ihn mischte. Wir hatten die Lichtung erreicht.
Die alte Eiche stand eindrucksvoll wie immer mitten auf der Lichtung. Ihre Äste ragten in alle Richtungen. Wäre ihre Krone nicht bereits wieder von dichtem Grün umhüllt gewesen, hätte man die morschen Überreste eines Baumhauses in ihren Ästen sehen können.
Heute galt unsere Aufmerksamkeit aber nicht den Baum – der sich mit seinen tiefen Ästen übrigens wunderbar zum Klettern eignete –, sondern einem stinkenden Haufen nahe seiner Wurzeln.
Ich konnte das Summen der Fliegen bis hier hören. Und es wurde noch lauter, als wir uns näherten.
Schnell wurde der Geruch nach Verwesung so intensiv, dass ich mir den Ärmel meiner Jacke vor die Nase hielt.
„Bah, ist das eklig!“, hörte ich Lars hinter mir jammern. Er blieb in etwas Abstand zum Kadaver stehen.
Klara und ich waren da weniger zimperlich. Neugierig gingen wir näher an das tote Tier heran. Als wir direkt davorstanden, musste auch ich schlucken.
Ich hatte schon so einige Rehe im Leben gesehen – auch tote aus der Nähe. Aber was hier vor uns lag, konnte ich kaum noch als Reh identifizieren. Sein Körper war völlig zerfetzt. Das Fell dunkelrot. Die Gedärme waren herausgerissen und überall um den Leichnam lagen unidentifizierbare Fetzen und Blut. Kein Wunder, dass selbst Dr. Novak den Angreifer nicht identifizieren konnte, wie Frau Richter vorhin gesagt hatte. Die Aasfresser mussten bei der Spurenverwischung ganze Arbeit geleistet haben.
Plötzlich überkam mich das Gefühl beobachtet zu werden. Schnell drehte ich mich zu Lars um, doch er stand mit dem Rücken zu uns, versuchte wohl, den Kadaver nicht ansehen zu müssen. Also wanderten meine Augen weiter. Doch da waren weit und breit nur Bäume.
Schließlich fiel mein Blick auf den Stamm der großen Eiche. Ich stutze. Direkt vor mir, etwa in zwei Metern Höhe, war ein blutiger Abdruck an der Rinde. Er sah fast aus wie von einer Hand.
Irritiert blickte ich nach oben. Die Sonne glitzerte durch das Blätterdach. Ich sah die vielen verzweigten und verwinkelten Äste über mir. Da war das alte Baumhaus, das ich vorhin schon erwähnt hatte.
„Suchst du was?“, riss mich Klara aus meinen Gedanken. „Da oben wirst du bestimmt nichts finden. Oder meinst du, das Reh wurde von einem Vogel totgepickt?“ Sie schmunzelte, als ich sie ansah.
„Nein, das nicht, aber … Findest du, dass das wie ein Handabdruck aussieht?“ Ich deutete auf den roten Fleck an der Rinde.
Neugierig trat Klara näher an den Stamm heran. Sie betrachtete den Abdruck eine Weile, bis sie schließlich antwortete: „Hmm. Ich weiß nicht. Kann schon sein, aber das menschliche Gehirn interpretiert gerne bekannte Formen in unförmige Flecken. Deswegen erkennt man auch überall Gesichter, wo die Formen nur minimal nach einem Mund und zwei Augen aussehen.“ Sie zuckte mit den Schultern.
Inzwischen hatte sich auch Lars zu uns gesellt. „Wenn du mich fragst“, sagte er mit zugehaltener Nase, „kann das auch ein Vogel gewesen sein. Hier wäre dann der Flügel gewesen.“ Er deutete auf die Ausformung, die ich als Finger gedeutet hatte.
Ich runzelte die Stirn. Ich sah es auch. Aber wieso sollte ein blutüberströmter Vogel gegen den Baum fliegen? Vielleicht ein Aasfresser? Eine Krähe, die aufgescheucht wurde? Aber für eine Krähe war der Abdruck recht klein.
Die anderen schenkten ihm bereits keine Beachtung mehr.
„Kannst du nicht spuren lesen oder sowas? Dein Vater ist doch Jäger“, schlug Lars vor.
Ich hob eine Augenbraue, während ich mich vom Blutabdruck abwandte. Dann sah ich mir den Boden näher an. „Oh! Du hast recht!“, sagte ich begeistert.
Ich ging einen Schritt auf Lars zu, woraufhin er sofort beiseitetrat, um mir Platz zu machen.
„Ja! Ja, genau hier …“, ich machte eine künstliche Spannungspause und sah mit einem Grinsen zu Lars auf. „Genau hier stand eben noch ein ziemlich großer Vollidiot, der zu viele Filme gesehen hat.“ Ich deutete auf seinen Schuhabdruck im Gras.
„Ha ha, sehr witzig“, erwiderte er, musste aber selbst grinsen.
„Tut mir leid. Mag sein, dass erfahrenere Jäger das vielleicht können, aber wenn ich mit Papa unterwegs bin, hocken wir meist nur in irgendeinem Hochsitz und warten.“
Dass ich selbst noch nie ein Tier erschossen hatte, rieb ich ihm lieber nicht auch noch unter die Nase.
—
Wenig später hockten wir abseits vom Gestank über einer Karte vom Wald, auf der wir die bisherigen Kadaverfunde verzeichnet hatte. Wir waren gerade dabei, unser weiteres Vorgehen zu besprechen – geplant war ein rasterförmiges Abarbeiten der betroffenen Waldstücke –, als plötzlich ein Schrei durch den Wald schnitt. Er war laut, klang aber weder nach irgendeinem Tier, das ich kannte, noch nach einem Menschen. Wenn ich ihn zuordnen müsste, würde ich sagen, dass er erschrocken klang. Vielleicht eine Art Warnruf?
„Was war das?“, fragte Klara, die sich sofort nach der Geräuschquelle umsah.
Lars blieb lockerer. „Bestimmt irgendein Tier. Ich hab in einem Video gehört, wie Füchse schreien. Das klang so ähnlich“, erklärte er.
Ich musste ihm die Illusion leider zerstören. „Das war kein Fuchs. So ein Tier hab ich hier noch nie gehört, und ich bin schon verdammt oft im Wald gewesen.“
Wir warfen einander vielsagende Blicke zu.
Ich hielt mein Gewehr fest in den Händen, bereit es zu entsichern, während wir uns als dicht geschlossene Gruppe auf den Weg Richtung Schrei machten.
Wir schlichen eine Weile stumm nebeneinander her, darauf bedacht, möglichst wenig Lärm zu machen. Trotzdem sahen oder hörten wir um uns herum nichts Ungewöhnliches mehr. Da waren nur die Vögel, die unaufhörlich zwitscherten, der Wind, der zischend durch die Blätter fegte, und das Rauschen eines Bachs, dem wir immer näherkamen. Den Geräuschen nach gingen wir direkt darauf zu.
Als wir das Gewässer schließlich sahen, verzog ich das Gesicht. Der Bach war ziemlich breit. Wenn wir keine nassen Füße bekommen wollten, müssten wir eine schmalere Stelle suchen. Wortlos gingen wir den Bach entlang, Augen und Ohren weiterhin weit geöffnet.
Plötzlich packte mich Lars an der Jacke. Ich blieb sofort stehen.
„Seht mal!“, sagte er zu uns. Er deutete auf einen Abdruck im Uferschlamm, in den ich fast hineingetreten war.
Neugierig bückte ich mich. Es war ein Fußabdruck. Ein menschlicher Fußabdruck. Und er sah ziemlich frisch aus.
„Vielleicht war der Schrei doch von einem Menschen“, überlegte ich laut. „Wenn hier bloß ein paar Typen rumgealbert haben …“
„Und wenn es wirklich ein Geist ist?“, warf Lars ein.
Klara und ich sahen ihn ungläubig an.
„So ein Quatsch. Der Abdruck ist bestimmt von jemandem, der seine Füße im Wasser baumeln lassen wollte. Außerdem hab ich noch nie gehört, dass Geister barfuß unterwegs sein sollen.“
„Oder nackt …“, ergänzte Klara.
Es dauerte einen Moment, bis ich verstand, worauf sie hinaus wollte. Sie spielte auf den nackten Mann an. Die Puzzleteile in meinem Kopf begannen, sich zusammenzusetzen.
„Meintest du nicht, dass der Mann blutige Hände hatte?“, fragte ich.
Klara nickte.
„Und war da an dem Baumstamm nicht ein blutiger Handabdruck?“, ergänzte ich.
Jetzt machte es auch bei meinen Freunden Klick.
„Du meinst, dass irgendein Verrückter nackt durch den Wald rennt und Tiere tötet?“, sprach Lars es laut aus.
„Ich weiß es nicht. Vielleicht. Ich kann nur sagen, wonach es aussieht“, erklärte ich.
„Vielleicht sollten wir die Polizei rufen?“, warf Klara dazwischen. „Wenn das wirklich ein Verrückter ist, ist er bestimmt gefährlich.“
„Und wenn schon, wir haben ein Gewehr“, erwiderte ich. „Wenn wir zusammen bleiben …“
Aber Klara ließ mich nicht ausreden. „Und wenn er auch eine Waffe hat?“
„Wenn er die Tiere mit einer Waffe getötet hätte, hätten mein Vater oder Dr. Novak das bestimmt bemerkt.“
Andererseits … wenn das wirklich ein Mensch war, konnte ich ihn nicht einfach erschießen.
„Aber ihr habt recht“, gab ich nach. „Wir brauchen einen neuen Plan.“
Ich hoffte nur, dass Papa trotzdem stolz auf mich wäre, auch wenn ich nur teilweise bei der Suche nach dem Monster im Wald geholfen hatte.
—
Wir waren auf dem Rückweg, waren erst ein paar Meter gegangen, als ich bei einem der Bäume etwas am Boden bemerkte. Neugierig ging ich näher.
„Wartet mal“, sagte ich, während ich mich danach bückte.
Hier am Boden war ein weiterer Abdruck eines nackten menschlichen Fußes. Er führte direkt auf den Baum zu, nur wenige Zentimeter vom Stamm entfernt, als habe jemand sich am Stamm gedehnt oder … als wäre er auf den Baum geklettert.
Schnell blickte ich hoch. Bevor meinen Lippen jedoch ein Schrei entfahren konnte, schrie etwas Anderes auf: Im Baum über mir hockte ein nackter Mann. Er hatte bleiche Haut, keinerlei Haare auf dem Kopf, war abgemagert und stürzte sich schreiend auf mich.
Die Wucht des Aufpralls riss mich um. Ich fiel mit dem Rücken auf einige Wurzeln, aber mein Kopf wurde von weicher Walderde abgefedert.
Trotzdem schaffte ich es nicht, das Gewehr hochzureißen. Nicht nur, dass der Mann mit seinem knochigen Körper auf mir hockte, er schlug auch noch so wild auf mich ein, dass ich schützend meine Arme vor mein Gesicht und meinen Hals reißen musste. Dabei war er die ganze Zeit wie wild am Schreien.
„Florian!“, schrien Klara und Lars wie aus einem Munde.
Lars war sofort bei mir. Ich sah, wie er sich auf den Mann stürzte, aber im letzten Moment trat der Mann nach ihm. Mit einem Geschick, dass ich ihm in seinem Zustand nicht zugetraut hatte, traf er mit seinem nackten Fuß Lars‘ Gesicht. Es ertönte eine Mischung aus einem Klatschen und einem Knacken. Mein Freund hielt sich die Nase, während er einige Schritte zurücktaumelte und schließlich stürzte.
„Lars!“, rief ich, hatte jedoch keine Möglichkeit, zu ihm zu eilen.
Noch immer hockte der Mann über mir. Schlug wild auf mich ein. Während der Stoff meiner Jacke die gröbsten Schläge abfing, traf mich Speichel im Gesicht. Außerdem war da dieser fürchterliche Gestank. Seine Hände waren überzogen von getrocknetem Blut, wie Klara gesagt hatte, aber ich konnte nicht sagen, ob es das Blut oder sein Atem waren, der so fürchterlich nach Verwesung stank.
‚Tock!‘, ertönte es plötzlich. Ich hatte keine Ahnung, ob Klara auf seinen Kopf gezielt hatte oder ob es bloßes Glück war. Der Mann sprang jedenfalls zur Seite, als ihn der Stein mit voller Wucht an der Schläfe traf.
Lange setzte ihn das aber nicht außer Gefecht. Noch ehe ich mich aufsetzen konnte, krabbelte er auf allen vieren über mich hinweg und rannte mit fast unmenschlicher Geschwindigkeit auf Klara zu.
Seine Bewegungen erinnerten mich mehr an ein Tier als an einem Menschen. Trotzdem zögerte ich, nachdem ich die Waffe entsichert hatte und auf ihn zielte. Auch stand Klara genau in meinem Schussfeld. Im letzten Moment riss ich den Lauf nach oben und feuerte einen Warnschuss ab.
Der Knall hallte durch den gesamten Wald. Ich hörte, wie unzählige Vögel entsetzt aufflogen. Ein Gewirr aus Flügelschlägen kam aus allen Richtungen.
Wer sich von dem Knall jedoch gänzlich unbeeindruckt zeigte, war der komische Mann. Er stürmte weiter auf Klara zu, riss sie einfach zu Boden.
Ich lud sofort nach. Die leere Patronenhülse feinsäuberlich abfangend, wie Papa es mir beigebracht hatte, zielte ich bereits wieder auf den Angreifer. Dann ging alles sehr schnell: Beim Zielen sah ich, dass der nackte Mann über Klara hockte. Er hatte einen großen Stein aufgehoben, den er schlagbereit über sich hielt. Ich hatte keine Zeit zu denken, nur zu handeln.
Ein weiterer Schuss hallte durch den Wald. Diesmal hatte ich den Lauf nicht in letzter Sekunde hochgerissen. Die Kugel hatte ihr Ziel genau getroffen.
Der Mann schrie. Seine Schreie klangen ähnlich wie der Schrei vorhin, nur um einiges qualvoller. Dafür hatte er von Klara abgelassen. Mit gequältem Gejammer hatte er sich neben ihr am Boden zusammengerollt. Die Hände presste er fest auf die frische Wunde, die ich in seinen Bauch geschossen hatte.
Schnell rappelte ich mich auf. Ich rannte zu Klara, um zu sehen, ob es ihr gutging, aber sie war bereits wieder auf den Beinen, ehe ich sie erreicht hatte. Und auch Lars schien es, abgesehen von einer wahrscheinlich gebrochenen Nase, gutzugehen.
Wir stellten uns in einigem Abstand um den komischen nackten Mann. Es war ein mitleiderregender Anblick, wie er weinend und winselnd am Boden lag. Trotzdem reagierte er nicht auf unsere Fragen und Rufe. Es schien, als wäre er mehr Tier als Mensch.
Dafür konnte ich den Mann jetzt, wo er nicht mehr auf mir hockte und sich nicht zu sehr bewegte, deutlich erkennen. Er war unnatürlich dünn, viel dünner als ein Mensch mit seiner Kraft sein sollte. Die Haare auf dem Kopf waren nicht das Einzige, was fehlte. Er hatte keinerlei Körperbehaarung, weder an Armen und Beinen, noch an der Brust oder im Intimbereich. Er hatte nicht einmal Augenbrauen oder Wimpern.
Je länger ich ihn ansah, desto unsicherer war ich, ob dieses Ding wirklich ein Mensch war. Als ich von einem Monster im Wald geredet hatte, ging ich eigentlich nicht von einem echten Monster aus. Ich ging davon aus, dass wir einen tollwütigen Hund oder etwas Ähnliches fanden. Aber das …?
„Was machen wir jetzt?“, fragte Klara nervös.
„Lasst uns abhauen!“, sagte Lars. „Er ist doch jetzt erledigt, oder? Scheiße, wir haben auf einen Mann geschossen!“
Ich überlegte einen Moment, ihm zuzustimmen. Aber abgesehen davon, dass ich nicht wusste, was passieren würde, wenn jemand seine Leiche fand, brachte ich es nicht übers Herz, ihn hier einfach liegenzulassen. Es war ein Bauchschuss. Wenn ich keine wichtigen Organe getroffen hatte, hatte er eine gute Chance, zu überleben.
—
Es stellte sich heraus, dass das die richtige Entscheidung gewesen war. Nachdem ein Sanitäterteam ihn aus dem Wald geholt hatte, brachten sie ihn sofort ins Krankenhaus. Er überlebte.
Und nicht nur das: In der psychiatrischen Einrichtung, in die er anschließend gebracht wurde, stellte man fest, dass es sich tatsächlich um den vermissen Peer Jakobs handelte. Niemand wusste, was ihm zugestoßen war, weder psychisch noch physisch, aber er war am Leben. Auch wenn er meines Wissens nach nie wieder ein Wort gesprochen, geschweige denn die Einrichtung verlassen hatte.
Bleibt nur noch zu sagen, dass die polizeiliche Ermittlung aus mir unbekannten Gründen eingestellt wurde. Vielleicht sahen sie ein, dass ich aus Notwehr gehandelt hatte? Klara, Lars und ich wurden nur ein einziges Mal verhört.
Um genau zu sein, endete die Ermittlung ziemlich abrupt, nachdem zwei Mitarbeiter von Lighthouse – einer ominösen Elektrikerfirma, wie ich im Internet herausgefunden hatte – unserem örtlichen Polizeipräsidium einen kurzen Besuch abgestattet hatten.
Ich hatte keine Ahnung, was es damit auf sich hatte, aber eigentlich war es mir auch egal.
Papa hatte mir natürlich Hausarrest gegeben und ich hatte einen Monat lang Handyverbot, weil ich ohne Erlaubnis sein Gewehr geborgt hatte. Trotzdem wusste ich, dass er insgeheim stolz auf mich war. Das merkte ich daran, wie er mich seitdem behandelte. Es war ihm egal, ob ich vegan lebte oder nicht. Und in seinem Jagdverein war ich laut ihm eine ganze Weile lang das Gesprächsthema Nummer eins. Meine Welt war wieder in Ordnung.
Bleibt auf dem neusten Stand und folgt mir auf:
Hintergrund:
An sich hatte ich vor, an dieser Stelle den Hintergrund zu dem Bild zu erläutern, auf dem die Geschichte basiert. Ich wollte euch meinen Gedankenprozess beim Planen/Zeichnen aufzeigen, erzählen, woher meine Ideen kamen usw.
Bei den anderen beiden Bildern hätte ich das auch tun können, aber das Bild zu „Das Monster im Wald“ war bloß eine kleine unüberlegte Zeichnung, eine spontane Idee, die mir zum Inktober eingefallen war.
Ich hatte mir weder Gedanken um das Charakterdesign noch um die Hintergrundgeschichte gemacht. Und trotzdem bin ich unendlich glücklich mit der Geschichte, die jetzt daraus entstanden ist.
Das Einzige, was mich etwas fertig gemacht (und mir auch nach dem eingeplanten Schreibwochenende viele Stunden Freizeit geraubt hat), war die Überlänge der Geschichte. Im Nachhinein muss ich aber sagen, dass es sich gelohnt hat. Das Monster im Wald hätte meiner Meinung nach nicht viel kürzer sein dürfen.
Was haltet ihr von der Geschichte? Fandet ihr sie genauso gut, wie meine anderen? Fandet ihr sie zu lang oder genau richtig? Schreibt es in die Kommentare!
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mal wieder eine interessante geschichte ^^
Danke. 😀
Es war eine tolle Geschichte, war schön mal etwas länger mit lesen beschäftigt zu sein.
Außerdem finde ich es sehr cool das du dir sowas ausgedacht hast.👍😄
Danke. Mal von der Länge abgesehen, ist es tatsächlich viel weniger Arbeit, sich eine Geschichte komplett selbst auszudenken, anstatt erst für die Legende recherchieren zu müssen, das Ganze in einen nicht zu langen aber informativen Text zusammenzuschreiben und dann bei der Geschichte sich eine passende Geschichte auszudenken, die in die Rahmenbedingungen passt. (Andererseits liebe ich die Recherche und sie macht mir oft genauso viel Spaß wie das Schreiben, manchmal sogar mehr.) 😅
Eine wunderbare Geschichte, die da wieder entstanden ist. Danke für das Lesevergnügen! Ich las und las und las und dachte: wow, das geht ja ewig! Aber es hat sich definitiv gelohnt. Auch wenn ich mir eine andere Geschichte gewünscht hatte 🤭
Ich hoffe, sie ist nicht zu lang. Hätte ich mehr Zeit zum Überarbeiten gehabt, hätte ich evtl. ein paar Sachen gekürzt/gestrichen (z. B. die Nachbarin), aber das meiste muss in der Geschichte drin bleiben, finde ich. 😅
Nur weil man vegan ist gleich ein Monster erschießen zu müssen finde ich zwar ein wenig überenthusiastiasch, aber ansonsten geniale Geschichte xD. Ich glaub das wird eine meiner Lieblingsbeiträge
Gut, wenn du es so direkt schreibst … ^^‘
Mir war auch beim Schreiben bewusst, dass es sicherlich bessere Methoden gäbe (er hätte ein Reh erschießen können o. Ä.), aber wenn ich das noch alles ausgeführt und begründet hätte, warum Florian das nicht will, wäre die Geschichte noch länger geworden. xD
Aber es freut mich, dass dir die Geschichte trotzdem gefällt! 😁