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Luna und die Vergeltung der Geister – Kapitel 2:

Wie versprochen gibt es heute das zweite Kapitel von meinem geplanten Roman „Luna und die Vergeltung der Geister“. Viel Spaß!

Kapitel 2:

Am nächsten Tag wäre ich am liebsten zuhause geblieben, um nichts zu tun. Wahrscheinlich hätte ich das auch getan – ich schwänzte sogar die Uni –, wenn Natalie gegen Nachmittag nicht besorgt meinen festen Freund angerufen hätte. Finn war sofort vorbeigekommen, als Natalie meinte, dass es mir nicht gut gehe.

Er hatte mich beschützend in den Arm genommen und es irgendwie geschafft, mich zu einem Spaziergang zu überreden – auch wenn er mir versprechen musste, dass wir vor Anbruch der Dunkelheit wieder zu Hause waren.

Auf der Straße sog ich die kühle Herbstluft durch die Nase ein. Es roch hauptsächlich nach Laub. Nur ein einziges Mal kam der Geruch von Abgasen auf, als ein Auto an uns vorbeifuhr. Aber das war für Kleinstadt nichts Ungewöhnliches. Auf den Straßen war nie viel los, es fuhren nur vereinzelte Autos, und kleinere Menschenansammlungen gab es nur an den Bushaltestellen und Bahnhöfen. An der Uni hielt sich das hartnäckige Gerücht, dass Kleinstadt nur Kleinstadt hieß, weil es so unbedeutend war, dass es keinen eigenen Namen brauchte. Lediglich die Uni und die vielen Studierenden störten das Klischee ein wenig.

Der Spaziergang war eine gute Idee von Finn gewesen. Nicht nur, dass die frische Luft mir guttat, ich schaffte es sogar, mich einigermaßen abzulenken. Seit ich mit dem Architekturstudium begonnen hatte, fiel mir auf, dass ich immer mehr auf die Bauart der Häuser achtete. Und so machte ich mir einen Spaß daraus, zu erraten, wann die Häuser, an denen wir vorbeigingen, wohl errichtet wurden. Ich erkannte auf den ersten Blick, dass die meisten Häuser gegen Mitte bis Ende des 20. Jahrhunderts gebaut wurden. Nur wenige waren älter und noch weniger neuer.

Als ich meinen Blick von einem Haus löste, dessen Fassade zum Teil aus Verputz, zum Teil aus Klinkersteinen bestand, fiel mir auf, dass wir uns dem Stadtpark näherten. Ich musste lächeln. Ich liebte den Stadtpark von Kleinstadt. Wenn man ihn betrat, war man von einer Wand aus Bäumen und Büschen umgeben. Man konnte kaum noch etwas von der Straße oder den Häusern sehen. Stattdessen kam man sich vor, als wäre man an einem ruhigen, ländlichen Ort gelandet. Im Sommer war ich daher häufig zum Zeichnen hergekommen.

Jetzt, wo die Bäume dabei waren, ihre Blätter zu verlieren, blitze stellenweise etwas von der Stadt durch die Äste hindurch. Dafür stellten die bunten Blätter ein frohes Farbenspiel zur Schau, während sie im Wind tanzten.

Finn legte einen Arm um mich. „Sag mal … Ist nach dem Vorfall bei Lisa und Jenny eigentlich noch etwas passiert? Oder warum warst du vorhin so komisch?“, fragte er.

Erst jetzt fiel mir auf, wie kalt der Herbstwind war. Ich drückte mich enger an Finn. „Wie meinst du das?“, fragte ich.

„Na ja, es ist ja nicht normal, dass man seltsame Frauen sieht, die gar nicht da sind …“, erwiderte er zögerlich.

„Ich hab dir doch gesagt, dass das nur der Schock war“, fuhr ich ihn an. Es ärgerte mich, dass er mich ausgerechnet jetzt daran erinnern musste.

Finn antwortete nicht. Stattdessen gingen wir eine Weile schweigend nebeneinander her.

„’tschuldigung“, sagte ich leise. „Ich wollte dich nicht anfahren. Ich weiß doch auch nicht, wen oder was ich da gestern gesehen habe.“

Finn blieb abrupt stehen. Er sah mich eindringlich an, während er mich sanft festhielt. „Wir wissen doch beide, dass es keine Geister gibt.“

Ich merkte, wie meine Augen feucht wurden. „Das meinte ich nicht“, sagte ich mit brüchiger Stimme. „Aber … andere Menschen, die Personen sehen oder Stimmen hören, die gar nicht da sind …“

„He“, fiel er mir ins Wort. Er drückte mich eng an sich, sodass mein Gesicht im Stoff seiner Jacke verschwand. „Lu, du bist nicht verrückt. Warte nur ab. In ein paar Tagen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.“

Ich antwortete nicht. Stattdessen starrte ich gedankenverloren zu Boden. Als wir den Park wieder verließen und uns auf den Heimweg machten, hob ich nicht einmal den Kopf, um wieder die Häuser zu betrachten.

„Und wenn ich doch verrückt bin?“, fragte ich leise. „Versprichst du mir, dass du dann bei mir bleibst?“

Wieder blieb Finn stehen. Er hob mit seiner Hand mein Kinn und zwang mich, ihm in die Augen zu sehen. „Luna, du bist nicht verrückt. Das weiß ich ganz sicher. Und wenn doch, dann stehen wir das zusammen durch. Versprochen.“

Ich lächelte ihn an. Zwar wusste ich nicht, was mit mir los war, aber mit Finn an meiner Seite würde alles gut werden. Ich lehnte mich vor, um ihm einen Kuss zu geben. Ehe sich unsere Lippen jedoch berührten, erklang ein tiefes, lautes Bellen vom Grundstück neben uns, während ein großer, schwarzer Hund auf den Zaun zuraste. Panisch kreischte ich auf. Ich wäre meinem Freund fast auf die Arme gesprungen.

„Was ist?“, fragte Finn entsetzt. Er hielt mich beschützend fest, während er mich besorgt ansah.

Den Tränen nahe starrte ich ihn halb panisch, halb verständnislos an. „Du weißt doch, dass ich Angst vor Hunden habe.“

Finn sah sich verwirrt um, ehe er mich mit gerunzelter Stirn ansah. „Einen Hund? Ich hab keinen gesehen.“

„Du musst ihn doch gehört haben“, erwiderte ich schluchzend. Dann drehte ich mich zu dem Hund um, um auf ihn zu deuten, ließ meine Hand jedoch auf halbem Wege in der Luft hängen. Da war kein Hund.

Verwirrt ging ich zu dem Grundstück. Es war gut einsehbar und der gesamte Vorgarten war eingezäunt. Der Hund hätte noch da sein müssen.

Vorsichtig warf ich einen Blick über den Zaun. „Ich versteh das nicht“, sagte ich laut. „Hier war eben ein Hund. Ein großer schwarzer Hund. Du musst ihn doch bellen gehört haben.“

Plötzlich wirkte Finn genervt. „Das ist nicht witzig. Ich mach mir Sorgen um dich und du hast nichts Besseres zu tun, als mich zu testen. Ich habe gesagt, dass ich bei dir bleibe. Wieso glaubst du mir das nicht einfach?!“

Ihn testen? Ich starrte ihn an, war mir unsicher, ob ich wütend oder enttäuscht darüber sein sollte, dass er mir solche Unterstellungen machte. Doch Finn ging einfach weiter. Er wartete nicht einmal auf mich. Schnell rannte ich ihm nach. Ich war zwar wütend, wollte jetzt aber auf keinen Fall allein sein.

Den restlichen Weg würdigte Finn mich keines Blickes. Er weigerte sich sogar, mit mir Händchen zu halten. Aber ich war eh zu sehr in Gedanken, um mich darüber aufzuregen. Es war also wieder passiert. Es war tatsächlich wieder passiert. Wieso sah und hörte ich Dinge, die gar nicht existierten?

Nachdem Finn mich zurück zur WG gebracht hatte, wollte er direkt wieder gehen, also ergriff ich seine Hand, um ihn aufzuhalten. Zuerst sah er aus, als wolle er sich losreißen, doch irgendetwas in meinem Blick schien ihn davon abzuhalten.

„Was ist?“, fragte er. Er klang jetzt mehr besorgt als genervt.

Ich merkte, dass sich ein Kloß in meinem Hals bildete. „Das mit dem Hund war kein Test“, sagte ich kleinlaut. „Ich hätte schwören können, dass da ein Hund war.“ Ich merkte, wie mir wieder Tränen in die Augen stiegen.

Finn sah mich mit einem Blick an, den ich nicht recht zuordnen konnte. Dann nahm er mich in den Arm. „Hör mal. Ich muss jetzt wirklich los. Wir sehen uns ja morgen wieder.“ Er drückte mir noch einen flüchtigen Kuss auf den Mund, bevor er im Flur verschwand.

Ich wollte etwas erwidern, ihn bitten, noch zu bleiben, doch der Kloß in meinem Hals schnürte mir die Kehle zu. Bevor ich auch nur ein Wort über die Lippen brachte, fiel die Tür bereits hinter Finn ins Schloss.

Während ich versuchte, meine Tränen zurückzuhalten, rannte ich in mein Zimmer. Ohne etwas zu essen oder Zähne zu putzen, legte ich mich ins Bett, wo ich leise in mein Kopfkissen weinte. Was war nur los mit mir? Ich hatte mir noch nie Dinge oder Geräusche eingebildet. Lag es nur an dem Stress oder steckte mehr dahinter?

Meine Tür öffnete sich leise. „Luna?“ Es war Natalie, die nach mir sehen wollte. Damit ich ihr nicht erklären musste, was passiert war, tat ich so, als würde ich schlafen. Da ich nicht reagierte, schloss sie die Tür wieder leise. Trotzdem kreisten meine Gedanken so sehr, dass es ewig dauerte, bis ich endlich einschlief.

Am nächsten Morgen musste ich früh aufstehen, da ich nicht schon wieder die Uni schwänzen wollte. Als Architekturstudentin hatte ich dienstags immer die beiden frühsten Vorlesungen erwischt. Dafür hatte ich den restlichen Tag frei.

Die Kombination aus Müdigkeit und Vorlesungen war genau richtig, um mich von den vergangen Tagen abzulenken. Ich schaffe es, bis nach den Vorlesungen so zu tun, als wäre alles wieder normal. Um genau zu sein, bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich sie sah. Als wäre sie eine völlig normale Studentin, schlenderte sie über den Campus. Sie wäre mir wohl nicht einmal aufgefallen, wenn ich mich vor der Séance nicht so intensiv mit ihr beschäftigt hätte. Ihr Name war Zoe. Sie hatte sich vor etwa drei Jahren das Leben genommen.

Als hätte sie meinen Blick bemerkt, drehte sie sich abrupt um. Sie sah mit gerunzelter Stirn durch die Menge, bis unsere Augen sich trafen. Während ihr Blick auf mir haften blieb, blinzelte sie überrascht, als sei ich eine alte Bekannte, die sie zufällig in der Menge entdeckt hatte. Meine Nackenhaare stellten sich auf.

Ohne jede Vorwarnung wurde ich plötzlich von hinten gepackt. Ich kreischte los, sah, wie einige Köpfe sich erschrocken zu mir umdrehten, doch niemand unternahm etwas.

„Seit wann bist du denn so schreckhaft?“, fragte Finn mit einem breiten Grinsen. Als er die Panik in meinen Augen erkannte, wurde sein Gesicht schlagartig ernst. „Hab ich dich so doll erschreckt? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“

Ich zögerte einen Moment, unsicher, ob ich es nicht lieber für mich behalten solle. Dann sagte ich leise: „Ich glaube, das habe ich auch.“

Finn seufzt schwer. „Wenn du wütend bist, weil ich gestern einfach so gegangen bin, dann …“

„Nein!“, fiel ich ihm ins Wort. „Ich habe eben Zoe gesehen!“

Finn machte große Augen. „Zoe?“, fragte er überrascht. „Die Verstorbene, mit der ihr bei eurem kleinen Ouija-Spielchen Kontakt aufnehmen wolltet?“

Ich nickte stumm. Ich wusste ja selbst, wie es klang. „Werde ich langsam verrückt?“, fragte ich monoton, den Blick auf die Pflastersteine am Boden gerichtet.

Als Finn sich bewegte, dachte ich, er würde mich in den Arm nehmen. Stattdessen öffnete er jedoch seine Umhängetasche und kramte darin herum. „Ich hab mich mal informiert“, sagte er, während er weiterkramte. Dann holte er eine hellgraue Visitenkarte hervor und hielt sie mir entgegen. „Diese Psychologin hat sich auf Leute spezialisiert, die Stimmen hören. Ich dachte, na ja, wieso redest du nicht mal mit ihr? Danach geht es dir bestimmt besser.“

Ich starrte die Karte. ‚Lydia Beck – Psychologin‘ stand darauf. War das sein Ernst? Hielt er mich jetzt für völlig durchgeknallt?

„Du musst ja nicht sofort hingehen, denk nur bitte darüber nach. Schlaf eine Nacht drüber.“ Er steckte die Visitenkarte in meine Jackentasche.

Ich wusste nicht, was ich sagen oder denken sollte. Meine eigenen Gefühle verwirrten mich. Ich war wütend und ängstlich. Zum einen wusste ich, dass er es nur gut meinte. Zum anderen schockierte war ich noch immer verletzt, weil er gestern nicht einmal bei mir bleiben wollte. Und dann hatte er mir direkt eine Psychologin rausgesucht?

„Ich mein das doch nicht böse“, entschuldigte er sich. „Ich mache mir Sorgen um dich.“ Er schenkte mir sein unschuldigstes Lächeln.

„Ich weiß“, sagte ich knapp. „Aber ich muss jetzt weiter.“ Ich ließ ihn stehen, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, und machte mich auf den Weg Richtung Fahrräder.

„Was war denn da los? Habt ihr Streit?“, ertönte eine Stimme hinter mir.

Ich drehte mich um. Es waren Jenny und Lisa. Sie mussten mich mit Finn gesehen haben.

„Ach, ich weiß nicht. Finn verhält sich seltsam, weil ich Leute sehe, die gar nicht da sind“, erklärte ich mit einem schiefen Lächeln.

Jenny machte große Augen. „Du hast wirklich eine Frau in meinem Zimmer gesehen?“

Ich nickte langsam. „Aber macht euch bitte keine Sorgen. Natalie meint, dass das nur der Schock war“, sagte ich schnell. Ich verzichtete darauf, ihnen von dem Hund oder Zoe zu erzählen. Hoffentlich hielten sie mich jetzt nicht auch für verrückt.

„Da hat sie recht. Du machst auf mich keinen gestörten Eindruck“, erwiderte Jenny grinsend.

Ich wusste, dass sie es lustig meinte. Trotzdem tat das Wort ‚gestört‘ irgendwie weh. Ich zwang mich zu einem zustimmenden Lächeln. „Aber ich muss dann auch weiter“, fügte ich schnell hinzu. „Wir sehen uns ja sicherlich die Tage.“

Ich verabschiedete mich von den beiden und machte mich auf den Weg nach Hause.

„Luna? Bist du das?“, hörte ich Natalies Stimme aus der Küche, nachdem ich die Haustür geschlossen hatte.

Ich antwortete mit einem lauten „ja“, zog mir die Schuhe aus und ging zu ihr. Wir umarmten uns zur Begrüßung. Dann bot Natalie mir einen Teller Spaghetti an.

Als wir am Tisch saßen und aßen, bemerkte ich Natalies neugierigen Blick. „Wieso ist Finn nicht bei dir? Ihr seid doch sonst so unzertrennlich, seit ihr ein Paar seid“, fragte sie.

Plötzlich hatte ich das Gefühl, als wäre das Schlucken sehr viel schwieriger geworden. Ich ließ mir Zeit, bis ich fertig gekaut hatte, um den Satz noch etwas hinauszuzögern.

„Wir hatten Streit“, sagte ich mit einem schweren Gefühl im Magen. „Er will, dass ich zu einem Psychologen gehe.“

Natalie starrte mich ungläubig an. „Nur, weil du diese komische Frau beim Ouija-Spiel gesehen hast? Ach komm schon. Wir waren da alle ziemlich durch den Wind.“

Ich starrte auf meinen Teller. „Das ist nicht alles“, gestand ich.

Aus dem Augenwinkel sah ich Natalies überraschtes Gesicht. „Was meinst du?“

Ich zögerte. Sollte ich ihr davon erzählen? Immerhin war sie meine beste Freundin. Wir hatten keine Geheimnisse voreinander.

„Na ja, da war noch …“ Ich zögerte. „Da war gestern dieser Hund, den Finn weder sehen noch hören konnte, und eben auf dem Campus habe ich Zoe gesehen.“

Natalie starrte mich entsetzt an. Sie ließ fast ihre Gabel fallen. „Du hast … Das ist …“ Mehr brachte sie nicht hervor.

Ich starrte weiter in mein Essen und merkte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. Diesmal konnte ich sie nicht zurückhalten. Leise begann ich zu schluchzen.

Natalie sprang sofort auf. Sie kam zu mir und streichelte fürsorglich meinen Rücken. „He“, sagte sie sanft. „Ich bin mir sicher, dass es für all das eine logische Erklärung gibt. Wenn du dir solche Sorgen machst, geh doch wirklich zu einem Psychologen. Bestimmt ist es irgendetwas völlig Harmloses. In ein paar Wochen lachen wir darüber.“

„Meinst du?“, schluchzte ich. „Versprichst du mir, dass wir trotzdem Freundinnen bleiben, wenn es etwas Ernstes ist?“

„Natürlich. Und wenn du nicht alleine gehen willst, komme ich eben mit. Dafür sind Freunde doch da.“

Während des restlichen Essens fühlte ich mich deutlich besser. Natalie und ich wechselten bald das Thema, um mich abzulenken. Da Finn sich nicht mehr, bei mir gemeldet hatte, entschieden Natalie und ich, den Tag miteinander zu verbringen.

Ich war so froh, Natalie als Freundin zu haben. Früher, bevor ich sie kennengelernt hatte, hatte ich weniger Glück mit meinen Freunden gehabt. Ich war noch nie die offenste Person gewesen und hatte schon immer Schwierigkeiten, neue Leute kennenzulernen. In der Schule hatte man mich wie eine Außenseiterin behandelt. Von seelischer bis körperlicher Gewalt hatte ich alles durchgemacht. Das änderte sich erst, als ich die Schule gewechselt hatte.

Damals wurde ich an einen Tisch mit Natalie gesetzt. Obwohl ich mich nicht getraut hatte, sie anzusprechen, schreckte es sie nicht ab. Im Gegenteil, sie plauderte einfach drauf los und nahm mich auf, als wäre ich schon immer ihre Freundin gewesen.

Über sie hatte ich schließlich auch Lisa, Jenny und einige andere Mädchen kennengelernt. Ich kann gar nicht beschreiben, wie dankbar ich dafür war. Sie war der Grund dafür gewesen, dass ich endlich keine Außenseiterin mehr war.

Ein Klingeln an der Tür riss mich aus den Gedanken.

„Ich geh schon“, sagte ich, weil ich näher an der Tür saß.

Es war Finn. Er guckte verlegen und hielt mir einen kleinen Blumentopf entgegen. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Er wusste genau, wie sehr ich Schnittblumen hasste. Ich möchte den Gedanken nicht, dass man sie nur züchtete, damit sie abgeschnitten wurden und man ihnen beim Sterben zusehen konnte.

„Tut mir leid wegen vorhin. Ich hätte vorher mit dir darüber reden müssen. Ich will doch nur helfen“, sagte Finn.

Ich nahm ihm die Blume ab. „Ist schon gut. Ich habe vielleicht auch etwas überreagiert. Möchtest du reinkommen?“

Am Abend lagen wir gemeinsam im Bett. Wir hatten uns wieder vertragen, weswegen er spontan entschlossen hatte, bei mir zu übernachten.

Ich sah ihn an. Im Halbdunkel konnte ich kaum mehr als sein Gesicht erkennen. Dafür hörte ich, dass seine Atmung langsam und gleichmäßig geworden war. Er war eingeschlafen.

Ein Lächeln zog sich über meine Lippen. Es hätte alles perfekt sein können, wenn da nicht dieses plötzliche Gefühl gewesen wäre, beobachtet zu werden. Unsicher drehte ich mich um. Ich ließ meinen Blick durch den dunklen Raum wandern, konnte jedoch kaum mehr als Silhouetten erkennen. Ich sah meinen Schreibtisch, auf dem der kleine Blumentopf stand, den Finn mir geschenkt hatte, meinen weißen Kleiderschrank und daneben … Ich erstarrte. Im schwachen Laternenlicht, das durch das Fenster fiel, konnte ich deutlich den Umriss einer Person erkennen.

Vorsichtig wanderte ich mit der Hand in Richtung Nachttisch. Ich tastete nach dem Kabel meiner Nachttischlampe, ohne den Blick von der Gestalt zu nehmen. ‚Bitte lass es bloß eine optische Täuschung sein‘, dachte ich. Dann endlich ertastete ich den Schalter.

Mein Schrei musste das ganze Haus geweckt haben. Ich war so schnell aufgesprungen und ins Bad gerannt, dass sich bei mir alles drehte. Ich wusch mein Gesicht mit kaltem Wasser, um wieder klarer zu werden. Hatte ich das eben nur geträumt oder verlor ich wirklich den Verstand?

Es klopfte an der Badezimmertür. „Lu? Ist alles in Ordnung? Ich hab dich schreien gehört“, rief Natalie durch die Tür.

Im nächsten Moment rüttelte jemand an der Klinke. „Was ist los?“, hörte ich Finns Stimme. „Hast du schlecht geträumt? Schließ bitte die Tür auf!“

„Ich hab eben Zoe gesehen“, sagte ich leise.

„Was!?“, entfuhr es Natalie und Finn wie aus einem Munde.

Mit noch immer zittrigen Knien ging ich zur Tür. Ich drehte den Schlüssel im Schloss und öffnete sie.

Jetzt konnte ich Natalies besorgtes Gesicht sehen. „Du hast bestimmt nur schlecht geträumt“, sagte sie aufmunternd.

Ich beachtete sie nicht, weil Finn meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er kam gerade mit seinen Sachen aus meinem Zimmer zurück. „Finn! Warte!“, rief ich entsetzt, während ich ihm in den Flur folgte.

Er sah mich ernst an. „Tut mir leid, Luna. Ich kann das nicht mehr! Vor ein paar Tagen war noch alles in Ordnung, aber jetzt drehst du völlig durch. Dass du dir Menschen einbildest, ist nicht normal.“ Er griff nach seiner Jacke. „Ich brauche eine Pause. Sag Bescheid, wenn du dir Hilfe gesucht hast!“

Noch bevor ich etwas erwidern konnte, hatte er – ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen – die Tür hinter sich zugeknallt.

Natalie war sofort bei mir. „Oh Luna, das tut mir so leid.“

Tränen schossen mir in die Augen, während meine Beine unter mir nachgaben. Heulend fand ich mich auf dem Laminat wieder. Was war nur mit Finn los? Das war nicht der Mann, in den ich mich verliebt hatte. Ja, wir waren erst seit zwei Monaten zusammen, aber ich liebte ihn. Wie konnte er mich da einfach so wegwerfen?

Ich spürte, wie Natalie sanft meinen Rücken streichelte. „He, das wird schon wieder“, sagte sie, während sie sich neben mich setzte. „Der kriegt sich schon wieder ein. Er ist bestimmt nur überfordert.“

Aber ich wollte das alles nicht hören. Finn war weg und es war meine Schuld. Es war alles meine Schuld. Irgendetwas stimmte mit mir nicht. Ich wollte doch nur wissen, was.

Natalie hatte sich neben mich auf den Boden gesetzt. Keine von uns sagte etwas. Nach einer gefühlten Stunde wischte ich mir schließlich die Tränen aus dem Gesicht.

„Ich geh wieder ins Bett“, sagte ich mit heiserer Stimme.

Natalie sah mich überrascht an. „Und wenn du wieder jemanden siehst?“

„Dann ist er nicht real, oder?“ Mit diesen Worten stand ich auf und ging zurück in mein Zimmer.

Dort warf ich Finns Blume einen finsteren Blick zu. Sie stand stolz auf meinem Schreibtisch, als wolle sie mich an ihn erinnern. Ich schaltete das Licht aus und legte mich wieder ins Bett. Abgesehen davon, dass ich mich in den Schlaf weinte, verlief die restliche Nacht zum Glück ruhig.

Am nächsten Tag wäre ich am liebsten im Bett liegen geblieben. Natalie meinte jedoch, dass ich nach Montag lieber nicht noch eine Vorlesung mit Anwesenheitspflicht verpassen solle. Außerdem würde die Ablenkung mir sicher guttun. Also ging ich schweren Herzens zur Uni. Konzentrieren konnte ich mich jedoch kaum. Die Hälfte der Zeit war ich damit beschäftigt, in Gedanken versunken Skizzen an den Rand meines Collegeblocks zu kritzeln.

Als die Vorlesung endlich zu Ende war, packte ich meine Sachen zusammen. Als ich meine Jacke überzog, hielt ich jedoch inne, weil ich ein kleines hartes Stück Papier in der Tasche fühlte. Ich nahm es heraus. Es war die Visitenkarte der Psychologin. Ich starrte das graue Kärtchen an. Was sprach denn dagegen, einmal mit ihr zu reden? Schlimmer machen konnte sie meine Situation ja wohl kaum. Und wenn sie tatsächlich helfen konnte? Ich würde alles dafür geben, dass Finn und ich uns wieder vertragen.

‚Gleich nach dem Essen rufe ich sie an‘, dachte ich mir und machte mich auf den Weg in die Mensa.

Ich hatte mich gerade mit meinem Tablett an einen Tisch gesetzt, als plötzlich ein anderer Student zu meinem Tisch kam. Sein Name war Noah. Er hatte seine Haare schwarz gefärbt, trug oft ähnlich düstere Kleidung, manchmal sogar Eyeliner und hatte Snakebites Piercings an der Unterlippe.

Als er sich vor mich stellte, sah ich ihn mit großen Augen an. Was wollte er von mir? Wenn Finn mich mit ihm sah, würde er mich wohl endgültig abschreiben. Zumindest waren Finn und Natalie der Meinung, dass Noah der wohl größte Freak auf dem Campus war – nicht nur wegen seiner Kleidung. Und unter den Studierenden erzählte man sich allerlei Gerüchte über ihn. Ich hatte sogar mal gehört, dass er jemanden umgebracht haben soll.

Noah hingegen schien nicht einmal etwas gegen die Gerüchte zu unternehmen. Er ignorierte die blöden Sprüche und schiefen Blicke einfach. Scheinbar war es ihm völlig egal, was die anderen von ihn dachten. Eine Eigenschaft, für die ich ihn insgeheim bewunderte. Aber das durften Finn und Natalie niemals erfahren.

„Kann ich dir helfen?“, fragte ich irritiert.

Noah sah mir direkt in die Augen. Er ignorierte meine Frage. „Stimmen die Gerüchte? Kannst du wirklich Geister sehen?“

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Das war auch schon das zweite Kapitel. Ich hoffe, es hat euch gefallen. Das dritte Kapitel folgt nächste Woche oder ihr findet es, wenn ihr nicht warten wollt, bereits jetzt auf Patreon!

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