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Botan Dōrō Zeichnung von Jeremie Michels. Eine japanische Frau in einem roten Kimono steht frontal im Bild und lächelt den Betrachter an. Der Hintergrund ist dunkel. Ihr halber Körper besteht aus einem Skelett, das grünlich leuchtet, die andere Hälfte ist menschlich.
Botan Dōrō (2020)

Botan Dōrō – der Geist von Otsuyu

Botan Dōrō ist eine bekannte japanische Geistergeschichte. Obwohl sie reine Fiktion ist, fand ich die Thematik passend genug für meinen Blog, um sie hier aufzunehmen.

Die Geschichte:

Ich habe eine Geschichte, die ich seit Jahren mit mir herumschleppe. Es ist jedoch nicht meine Geschichte, sondern die meines damaligen Herren Saburo, einem Mann, der eine unsterbliche Liebe gefunden hatte.

Damals war ich ein einfacher Bediensteter. Ich kannte Saburo fast nur als einen sehr traurigen Menschen. Obwohl er noch jung war, war seine Seele schon von tiefen Narben gezeichnet.

Vor vielen Jahren war er einer Frau namens Otsuyu versprochen. Die Liebe von ihnen war unzerstörbar. Sie wollten sogar heiraten.

Eines Tages wurde Saburo jedoch schwer krank. Er konnte sie nicht mehr sehen, und als er seine Krankheit endlich besiegt hatte, ereilte ihn die schlimme Nachricht: Otsuyu war plötzlich verstorben.

Die Trauer in Saburo war groß. Es vergingen einige Jahre, doch er schaffte es nie, eine andere Frau zu lieben. Für ihn gab es schon immer nur Otsuyu. Selbst ihr Tod konnte seine Liebe nicht brechen.

Ihr konnt euch seine Überraschung sicherlich vorstellen, als er eines Tages auf einem Fest ihr vertrautes Gesicht erblickte. Erst dachte er natürlich, dass er sie verwechsele, die Frau ihr bloß sehr ähnlich sehe. Doch als er Otsuyus Dienstmädchen sah, erlosch jeder Zweifel. Sie hielt eine Pfingstrosenlaterne in den Händen – eine Laterne, die sie schon immer für Otsuyu mit sich geführt hatte.

Er ließ alles stehen und liegen, rannte auf seine Geliebte zu. Ihre Augen trafen sich. Und auch sie erkannte ihn sofort.

In jener Nacht hatte Saburo viele Tränen vergossen. Doch es waren seit langer Zeit endlich wieder Tränen der Freude.

Otsuyu erklärte ihm, dass ihre Tante, die auch das Gerücht ihres Todes verbreitet hatte, ihr gesagt habe, dass Saburo seiner Krankheit erlegen sei. Und mein Herr, Saburo, glaubte seiner Geliebten jeder ihrer bittersüßen Lügen.

Wie ihr euch vorstellen könnt, waren die beiden sofort wieder ein Paar. Ihre Liebe war neu entfacht, wenn nicht sogar nie erloschen. Fast täglich öffnete ich Otsuyu die Tür zu Saburos Anwesen. Die Pfingstrosenlaterne, die Otsuyu auf Schritt und Tritt in den Händen ihrer Bediensteten folgte, war für mich bereits ein normaler Anblick geworden.

Doch der häufige Besuch war nicht die einzige Änderung gewesen. Saburo aß auch mit der Zeit weniger. Er wurde dünn und blass. Irgendwann brauchte er sogar einen Stock, um alleine gehen zu können. Es war genau wie damals. Seine Krankheit war zusammen mit Otsuyu zurückgekehrt.

Ich wusste, wie glücklich Saburo war, verbot mir, so zu denken. Doch je schwächer mein Herr wurde, desto weniger konnte ich den Gedanken zerschlagen: Was war, wenn es gar keine Krankheit war? Vielleicht war es ja in Wirklichkeit Otsuyu. Was war, wenn sie ihn in Wirklichkeit vergiftete?

Ihr müsst wissen, dass mein Herr aus einer wohlhabenden Familie kam. Wenn er Otsuyu auch nur einen Teil seines Vermögens vererbte, wäre sie eine reiche Frau gewesen. Und man hätte ihr wohl weitaus mehr als nur ein Teil zugesprochen.

Doch so sehr meine Ängste, mein Verdacht auch wuchsen, niemals hätte ich mit der Wahrheit gerechnet.

Eines Abends brachte ich Saburo, Otsuyu und Otsuyus Bediensteter etwas zu Essen auf Saburos Zimmer. Anschließend ging ich jedoch nicht wie gewohnt meiner Arbeit nach, sondern verharrte vor der Tür.

Durch einen schmalen Spalt beobachtete ich das Geschehen. Ich achtete besonders aus Saburos Essen, doch Otsuyu machte keine einzige Bewegung, die auch nur darauf hinwies, dass sie seine Speise vergiftete.

Nachdem ich gerufen wurde, um die Teller abzuholen, machte Saburo deutlich, dass meine Dienste an diesem Abend nicht weiter benötigt seien, indem er mir eine gute Nacht wünschte.

Als ich die Teller weggebracht hatte, ging ich aber nicht in meinen Raum, sondern schlich zurück zu Saburos Zimmer.

Ich hörte von draußen bereits, was die beiden taten. Normalerweise hätte ich zwei Liebende bei einer solchen Tätigkeit niemals beobachtet, doch ich war bei einem Punkt angekommen, an dem ich Otsuyu alles zutraute.

Mit Gewissensbissen spähte ich wieder durch den Türspalt. Sofort fiel mein Blick auf Saburo, der nackt auf seinem Bett lag.

Spätestens jetzt hätte ich meine Augen abgewandt, wenn ich nicht vor Schock erstarrt wäre. Dort, in den Armen von Saburo, lag nicht etwa eine Frau … Stattdessen schlangen sich knöcherne Arme um ihn. Und er hielt das Skelett …

Was passierte hier? Wo war Otsuyu?! Ungläubig riss ich die Tür auf. Saburo und der knöcherne Schädel des Skeletts wandten sich erschrocken zu mir. Meine Augen hingegen galten nur einem weiteren Skelett, das im Raum saß. Es trug Kleidung … bekannte Kleidung. Doch am auffälligsten war die Laterne, die es in der Hand hielt. Es war eine Pfingstrosenlaterne!

Doch wenn das Otsuyus Bedienstete war, dann musste Otsuyu … Mein Herr schlief gerade mit einer Toten!

Was dann folgte, ging alles viel zu schnell. Ich versuchte Saburo zu erklären, dass das Skelett, welches er in den Armen hielt, kein Mensch war. Er schrie mich jedoch nur wutentbrannt an. Sein Gesicht war knallrot vor Wut.

Noch ehe ich wusste, was geschah, stand ich auf der Straße. Mein Herr hatte mich verstoßen. Er hatte mich rausgeworfen und nicht einmal zu Wort kommen lassen.

Was sollte ich jetzt tun? Ich konnte ihn doch so nicht zurücklassen. Aber zurück ins Haus gehen, war keine Option. In seinem gesundheitlichen Zustand durfte Saburo sich nicht so aufregen!

Ich überlegte lange hin und her, bis ich schließlich zum nächsten Tempel rannte. Ich bat einen der Mönche um Rat.

„Die Frau ist ein Geist“, erklärte er, „Sie entzieht ihm – vielleicht völlig unabsichtlich – seine Lebensenergie. Wenn er sich weiterhin mit ihr trifft, wird er sterben.“

Obwohl die Worte alles andere als unerwartet waren, trafen sie mich wie ein Schlag.

Verzweifelt erzählte ich dem Mönch, dass mein Herr mich fortgeschickt hatte. Er würde mich nicht mehr einlassen und mir schon gar kein Gehör schenken.

Doch der Mönch beruhigte mich. „Ich gehe mit Euch. Gemeinsam werden wir ihn überzeugen.“

Wenig später standen wir wieder bei meinem Herrn vor der Tür.

„Was willst du hier? Habe ich dir nicht gesagt, dass …“, begann er, mich anzuschreien. Als sein Blick jedoch auf den Mönch fiel, verstummte er.

„Ist eure Geliebte noch hier?“, fragte der Mönch freundlich.

„Was? Sie ist bereits gegangen.“ Saburos Tonfall schlug ins Misstrauische um. „Warum wollt Ihr das wissen?“

In aller Ruhe erklärte der Mönch, was ich meinem Herren vorhin bereits erzählen wollte. Er fügte hinzu, dass es Saburos Leben in Gefahr sei, wenn er Otsuyu nicht verlasse.

Saburo hörte angespannt zu. „Was? Otsuyu ein Geist? Wie könnt Ihr es wagen?“, fuhr er jetzt den Mönch an.

Was konnte man auch anderes erwarten? Jahrelang lebte mein Herr in Trauer. Er würde es niemals zugeben, doch er hatte häufig um Otsuyu geweint. Und jetzt, wo er sie endlich wiederhatte, wollte man sie ihm wieder nehmen?

Der Mönch blieb gelassen. „Ich habe einen Vorschlag“, begann er, „Ich kann ein Schutzritual durchführen. Wenn Eure Geliebte ein Mensch ist, wird sich nichts verändern. Ihr könnt Euch weiter mit ihr treffen und so tun, als wäre all das hier nie passiert.“

Das beruhigte Saburo.

„Wenn sie jedoch ein Geist sein sollte“, fuhr der Mönch fort, „wird sie Euer Haus nie wieder betreten können!“

Mein Herr kniff die Augen zusammen. Er schien darüber nachzudenken, wo der Haken an der Sache sein könnte. Schließlich willigte er ein und ließ uns nach drinnen.

Nachdem der Mönch sein Ritual abgeschlossen und Saburo einen Talisman gegeben hatte, befürchtete ich, dass mein Herr mich wieder hinausschmeißen würde. Doch er tat es nicht. Er humpelte an seinem Stock zurück in sein Zimmer, ohne mich weiter zu beachten.

In den nächsten Tagen musste Saburo jedoch die unschöne Wahrheit einsehen. Erst war er felsenfest davon überzeugt, dass Otsuyu nur etwas dazwischengekommen wäre. Doch als sie in den nächsten Nächten noch immer nicht kam, wirkte er verbittert und wütend. Lediglich sein Gesundheitszustand zeigte deutliche Besserungen, aber das schien ihm kein Trost zu sein.

Es war fast eine Woche, nachdem der Mönch das Schutzritual über das Haus gewirkt hatte, als ich nachts wach wurde. Ich fühlte mich unwohl, weswegen ich aufstand und einen Moment nach draußen ging.

„Oh bitte, Geliebter. Saburo, komm doch zu mir!“, klagte eine vertraute Stimme. Das war Otsuyu. Sie stand an Saburos Fenster und rief zu ihm hinein.

Sofort rannte ich wieder nach drinnen. Ich stürmte in Saburos Zimmer, wo er am Fenster stand. Er beachtete mich kaum, als ich den Raum betrat.

„Das geht jetzt seit Tagen so“, sagte er. Seine Stimme war schwach und voller Trauer. „Sie ist da draußen. Ich muss nur zu ihr gehen …“

„Bitte Herr, das würde Euch umbringen“, erinnerte ich ihn. Ich wünschte, ich könnte etwas anderes sagen, ihm irgendwie Trost spenden, doch ich wusste nicht, wie.

Ich half ihm zurück ins Bett. Dann verließ ich den Raum, um ihm Wasser zu holen.

Als ich zurückkam, merkte ich sofort, dass etwas nicht stimmte. Die Tür stand offen. Ich rannte in das Zimmer, nur um zu sehen, dass Saburos Bett leer war. Auch die Stimmen von draußen waren verstimmt. Und am Boden neben dem Bett fand ich den Talisman, der meinen Herren schützen sollte.

„Nein. Saburo, was habt Ihr getan?“, jammerte ich leise. Er musste seiner Sehnsucht nach Otsuyu nachgegeben haben.

Ich suchte gar nicht erst nach ihm. Er hatte seine Entscheidung gefällt. Saburo würde die Nacht nicht überleben.

Am nächsten Morgen wurde meine Befürchtung bestätigt. Ein Bote eilte zu mir. Er erzählte, dass man Saburos Leiche gefunden hatte. Ich folgte ihm sofort.

Als wir uns einem Grab näherten, ahnte ich bereits, was ich finden würde.

Saburo lag in dem Loch. Seine Gesichtszüge waren völlig friedlich, fast schon glücklich. Eng umschlungen lag ein Skelett in seinen Armen. Saburo lag in Otsuyus Grab. Er war jetzt auf ewig mit ihr vereint.

Für ihn gab es schon immer nur Otsuyu. Selbst ihr Tod konnte seine Liebe nicht brechen.

Die Legende:

Botan Dōrō (japanisch für Pfingstrosenlaterne) ist eine alte japanische Geistergeschichte. Sie ist zwar fiktiv, soll jedoch mit einem Fluch belegt sein.

Ablauf:

Bei Botan Dōrō gibt es mal wieder viele verschiedene Versionen der Geschichte.

Der größte Unterschied ist wohl die Hauptperson, die je nach Version durchaus einen anderen Namen und eine andere Berufung haben kann.

Mal ist der Protagonist ein verwaister Samurai, mal ein einfacher, älterer Mann, mal ein junger Schüler oder Student und mal jemand ganz anderes. Der Verständlichkeit halber werde ich ihn hier Saburo – ein häufiger Name, wenn die Hauptperson dieser Legende ein Schüler ist – nennen.

Saburo trifft – meist auf einem Fest oder auf offener Straße – auf eine wunderschöne junge Frau namens Otsuyu, die von einem Dienstmädchen mit einer Pfingstrosenlaterne begleitet wird.

Je nach Version ist die Frau eine Fremde oder eine ehemalige Freundin des Protagonisten. In einer Variante ist sie z.B. eine verstorben geglaubte Geliebte. Sie erklärt Saburo, dass ein Verwandter das Gerücht ihres Todes verbreitet habe, während man ihr erzählt hatte, dass Saburo tot sei.

Bei beiden Varianten läuft es schnell darauf hinaus, dass Saburo und Otsuyu zusammenfinden. Sie treffen sich sehr häufig – in den meisten Versionen im Haus des Protagonisten. Mit der Zeit wird Saburo jedoch immer schwächer und kränklicher.

Ein Bediensteter oder Nachbar, der sich Sorgen wegen Saburos Zustand macht, beobachtet ihn, wie er Otsuyu und ihr Dienstmädchen zu sich ins Haus lässt.

Er spioniert ihnen nach und wirft bald einen Blick in Saburos Schlafzimmer, wo er voller Entsetzen sieht, dass Saburo Geschlechtsverkehr mit einem Skelett hat. Auf einem Stuhl in der Nähe bemerkt er ein weiteres Skelett, das eine Pfingstrosenlaterne in den Händen hält. Er erkennt sie sofort als Otsuyus Dienstmädchen.

So schnell er kann, sucht der heimliche Beobachter einen buddhistischen Mönch auf. Er erklärt, was vorgefallen ist, woraufhin der Mönch sofort einwilligt, zu helfen. Gemeinsam überzeugen sie Saburo, dass seine Geliebte in Wirklichkeit ein Geist ist.

Mithilfe eines Talismans oder eines Rituals, sorgen sie dafür, dass Otsuyu und ihr Dienstmädchen Saburos Haus nicht mehr betreten können. Zudem erklärt der Mönch, dass Saburo sterben würde, wenn er Otsuyu weiterhin sehe.

Es dauert jedoch nicht lange, bis die Liebe zu Otsuyu zu sehr weh tut. Saburo entfernt den Talisman und trifft sich erneut mit Otsuyu, woraufhin er stirbt.

In einigen Versionen findet man Saburos Leiche in einem Grab, wo er Otsuyus Skelett in den Armen hält.

Man sagt, dass sein Geist jetzt auf ewig mit seiner Geliebten zusammen sei.

Ort des Geschehens:

Der Ort, an dem Botan Dōrō spielt, kann je nach Variante zwar ein anderer sein oder nicht genauer benannt werden, die Geschichte spielt jedoch immer in Japan.

Die Ursprungsgeschichte spielt in Tokio.

Ursprung:

Während der Edo-Zeit (1603 bis 1868) war das Spiel Hyakumonogatari Kaidankai in Japan sehr beliebt. Bei dem Spiel ging es im Groben darum, dass eine Gruppe von Leuten sich gegenseitig Geister-, Horror- und Gruselgeschichten erzählt hat.

Am Ende jeder Geschichte wurde von dem Erzähler eine von 100 Kerzen ausgepustet. Viele Gruppen hörten nach 99 Geschichten jedoch auf, da sie Angst hatten, ansonsten böse Geister zu rufen.

Aufgrund dieses Spiels gab es zu damaliger Zeit einen großen Bedarf an Geistergeschichten.

Der Autor Asai Ryoi schrieb daher 1666 ein Buch – Otogi Boko –, das voller Geistergeschichten war. Eine dieser Geschichten basierte auf einer noch älteren chinesischen Geschichte. Er änderte die chinesische Geschichte ab und schuf so die noch heute bekannte Geschichte Botan Dōrō.

Hintergrund:

Botan Dōrō wurde seitdem in vielen verschiedenen Büchern, Theaterstücken und Filmen umgesetzt. Häufig gab es dabei kleinere Änderungen an der Geschichte, wodurch die vielen verschiedenen Versionen entstanden sind.

Es heißt jedoch, dass das Theaterstück mit einem Fluch belegt sei. Die Schauspieler, die die Rollen der beiden Geister übernehmen, sollen kurz nach ihrem Auftritt sterben.

Diese Legende geht auf den August 1919 zurück, als das Theaterstück im Tokyo Imperial Theater aufgeführt wurde. Die beiden Schauspieler, die die Geister gespielt hatten, sollen kurz darauf krank geworden und gestorben sein.


Was haltet ihr von Botan Dōrō? Mögt ihr Legenden lieber, oder könnt ihr euch genauso für solche rein fiktiven Geschichten begeistern? Wie hat euch die Geschichte gefallen? Schreibt es in die Kommentare!

Ich persönlich finde den Namen Botan Dōrō etwas seltsam gewählt, da die Pfingstrosenlaterne (also die Botan Dōrō) ja scheinbar nur ein Randdetail der Geschichte ist. Kennt vielleicht jemand von euch die originale Geschichte in voller Länge und kann mehr dazu sagen?

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