Startseite » Kyōkotsu – Brunnengeister

Kyokotsu
Kyōkotsu (2019)

Kyōkotsu – Brunnengeister

Kyōkotsu sind eine der Legenden, bei denen es im deutsch- und englischsprachigen Internet nur wenige Quellen gibt. Da ich kein Japanisch kann, konnte ich mich jedoch nur darauf beziehen. Trotzdem möchte ich nicht auf solche Legenden verzichten. Sollte jemand die Legende besser kennen und bei mir Fehler oder Unstimmigkeiten bemerken, würde ich mich sehr über einen Kommentar freuen!

Die Geschichte:

Ich saß Zuhause in meinem kleinen Bürozimmer und kümmerte mich um die Steuern. Ich war schon einige Zeit dabei, hatte leichte Kopfschmerzen und wollte vor allem einfach nur fertig werden.

Ihr könnt euch meine Begeisterung daher sicher vorstellen, als ich schnelle Schritte im Flur hörte – gefolgt von einem „Mami, Mami!“

Hatte Tobias Mimi etwa wieder geärgert?

Leicht genervt wandte ich mich in Richtung Tür, durch die Mimi gerade hereingetappst kam.

„Mami, da ist ein Gespenst im Brunnen!“, rief sie mir entgegen. Sie klang aufgeregt.

Ich seufzte. „Ach Mimi, hat Tobias dir das erzählt? Es gibt keine Gespenster“, sagte ich. Aber Mimi ließ nicht locker. „Doch wirklich! Ich hab es gesehen! Komm schnell!“

Mich davon abhaltend, mit den Augen zu rollen, stand ich auf und reckte mich. Vielleicht tat mir eine kurze Pause ja gut.

Sie hatte sicherlich nur eine Plastiktüte oder irgendetwas anderes im Brunnen schwimmen sehen – so dachte ich zumindest. Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass sie recht haben könnte.

Während ich meine Taschenlampe holte und Mimi nach draußen folgte, dachte ich darüber nach, dass wir den alten Brunnen endlich abreißen oder zumindest abdecken sollten. Wir brauchten ihn nicht und ich hatte immer Angst, dass eines meiner Kinder hineinfallen könnte.

Tobias kam sofort zu mir gerannt, als er mich sah. „Fangen wir jetzt einen Geist?“, rief er aufgeregt.

Ach was solls, dachte ich. „Das werden wir ja sehen!“, sagte ich gespielt aufgeregt und hielt fast schon triumphierend meine Taschenlampe in die Höhe. Manchmal wünschte ich, ich hätte noch genau so viel Fantasie, wie die beiden.

Da ich jedoch wusste, dass ich meine Steuern weiter bearbeiten musste, beschloss ich, mich etwas zu beeilen. Ohne große Umschweife ging ich zu dem alten Brunnen, der am Rand unseres kleinen Gartens stand, und schaltete die Taschenlampe ein.

Als ich hineinleuchtete, runzelte ich die Stirn. Das Wasser glänzte, als es den Lichtschein reflektierte, aber ansonsten war dort nichts zu sehen. Nur dreckiges Wasser, dessen Grund man nicht ansatzweise erkennen konnte. Keine Plastiktüte oder sonst etwas, das wie ein Geist hätte aussehen können.

„Seht ihr, hier sind keine Gespenster“, wandte ich mich wieder zu den Kindern. „Aber wir haben es beide ganz deutlich gesehen!“, protestierte Mimi und machte ein beleidigtes Gesicht.

„He, ich glaub euch ja, dass ihr etwas gesehen habt. Und vielleicht sah es ja auch nach einem Gespenst aus, aber ich kann dir versprechen, dass es irgendetwas anderes gewesen sein muss. Es gibt nämlich keine echten Gespenster. Das sind nur Geschichten!“

Ich wünschte, ich hätte ihnen geglaubt. Hätte vielleicht eine hellere Taschenlampe genommen, besser hingesehen. Aber selbst dann hätte ich die menschlichen Überreste unter all dem modrigen Wasser und Dreck wahrscheinlich nicht erkannt.

Nachdem ich Mimi und Tobias noch einmal ausdrücklich verboten hatte, auf den Brunnenrand zu klettern, damit sie nicht hineinfielen oder sich verletzten, ging ich zurück ins Haus und setzte mich wieder an den Computer.

Es dauerte jedoch keine zehn Minuten, bis ich erneut abgelenkt wurde. Von draußen kamen Schreie!

Was war denn nun schon wieder? Sofort stand ich auf und war bereits dabei, Richtung Tür zu gehen, als Mimi hereingestürmt kam.

„Mami! Das Gespenst hat Tobias in den Brunnen gezehrt!“ Sofort schalteten sich meine Alarmglocken ein. „Tobias ist in den Brunnen gefallen?“, fragte ich. Panik stieg in mir auf.

Wie ein aufgeschrecktes Tier stürmte ich panisch nach draußen. Mimi rief mir noch hinterher, dass es das Gespenst gewesen sei, doch ich hörte ihr nicht einmal zu.

„Tobias, alles wird gut! Ich bin bei dir!“, kreischte ich, als ich mich dem Brunnen näherte.

Noch war mir nicht aufgefallen, dass man ihn gar nicht um Hilfe schreien hörte. Ich dachte nur daran, dass er ein guter Schwimmer war und sich über Wasser halten konnte.

Als ich jedoch den Brunnen erreichte, weiteten sich meine Augen vor Schrecken: Ich konnte ihn nicht sehen. Das Wasser war zwar aufgewühlt, aber ich konnte Tobias nirgends sehen!

„Tobias! Tobias!“, kreischte ich, während ich mir die Schuhe auszog. Mimi begann hinter mir zu weinen.

Ohne zu zögern, riss ich an der Kette, an der der Eimer befestigt war. Ich würde sie in den Brunnen lassen, damit Tobias und ich uns an ihr wieder herausziehen konnten.

Ich schwang meine Beine über den Rand des Brunnens und starrte nach unten. Dort bewegte sich etwas! Ein heller Fleck erschien unter der Wasseroberfläche, der größer und größer wurde. War das Tobias?

Ich wollte mich gerade vorsichtig fallen lassen, als der helle Fleck direkt unter der Wasseroberfläche war. Meine Augen weiteten sich und ich zog vor Schreck fast die Beine zurück: Das war ein Schädel! Wahrscheinlich hatten Tobias und Mimi ihn gesehen und ihn für das Gespenst gehalten!

Doch ich hatte keine Zeit darüber nachzudenken, dass wir eine Leiche im Brunnen hatten, nicht, solange Tobias noch da drinnen war – so dachte ich jedenfalls …

Als der Schädel jedoch die Wasseroberfläche erreichte, bemerkte ich, dass etwas nicht stimmte. Obwohl er nur noch aus Knochen zu bestehen schien, hatte er lange, weiße Haare! Und nicht nur das, er begann, sich aus dem Wasser zu erheben – gefolgt von einem in Stoff gehüllten Körper!

Er schwamm aber nicht einfach an der Oberfläche, nein, er schwebte daraus hervor und kam näher und näher.

Ich schäme mich, zugeben zu müssen, dass ich Tobias in diesem Moment völlig vergessen hatte. Voller Verwirrung und einsetzender Panik, versuchte ich, von diesem Ding wegzukommen. Ich fiel nach hinten auf den Kiesboden. Als ich mich aufrappeln wollte, rutschte der Kies weg und ich schlug auf meinen Ellenbogen.

Mimi wollte bereits zu mir rennen, blieb aber plötzlich stehen und begann, zu kreischen. Die Leiche – oder was auch immer es war – hatte jetzt den Rand des Brunnens erreicht und ich sah, wie sie sich mit Leichtigkeit an der Brunnenwand hochzog.

Ich versuchte panisch, rückwärts zu krabbeln. Der Kies knirschte unter mir und kratzte mir blutige Schrammen in die Haut. So war ich niemals schnell genug!

Ich rollte mich auf den Bauch und versucht erneut, mich aufzurappeln. Ich wollte gerade das rechte Bein vorziehen, als ich etwas kaltes, nasses an meinem Fußgelenk spürte. Es war ein Ärmel aus nassem, modrigem Stoff und ich fühlte eindeutig fünf dünne, knöchrige Finger durch ihn hindurch.

Wie wild zerrte ich an meinem Bein und versuchte, mich loszureißen. Es gelang mir nicht.

Ich schnappte nach Luft, als ich bemerkte, dass dieses Wesen an mir zog. Mit Leichtigkeit zerrte es mich über den Kies und wieder kratzte er mir tiefe Schnitte ins Fleisch.

Aber wie sehr ich mich auch wehrte, wie sehr ich auch um mich trat, ich hatte keine Chance. Schnell waren ich wieder am Rand des Brunnes angekommen. Sofort stemmte ich mein freies Bein gegen die steinerne Brunnenwand, doch die schiere Kraft dieses Wesens zerrte mich an meinem Fußgelenk nach oben.

Mein gesamter Körper wurde schmerzhaft über die Brunnenwand gezerrt, bis ich mich nur noch mit meinen Armen und Händen am Rand festklammern konnte. Jetzt fiel mein Blick auf Mimi! Sie durfte das nicht mit ansehen!

„Renn! Lauf ins Haus, schnell!“, schrie ich ihr zu. Tränen rannen meine Wangen hinunter.

Mein Fußgelenk war inzwischen wund. Wieder und wieder trat ich nach dem Wesen und seinem Arm aus Stoff und Knochen, doch es half alles nichts. Meine Arme gaben nach und ich wurde in die Tiefe des Brunnens gezerrt.

Mit einem lauten Platschen landete ich im Wasser. Es war eiskalt und brannte in meinen Augen. Schnell wurde ich nach unten gezogen. Ich hatte keine Chance, an die Oberfläche zu gelangen.

Endlich ließ das skelettartige Wesen mein Fußgelenk los. Jedoch nur, um mich Sekunden später an den Schultern zu packen und auf den Grund des Brunnens zu drücken.

Trotz des dreckigen Wassers, der Dunkelheit und des Schlamms, den ich bei meinen Befreiungsversuchen aufwirbelte, konnte ich das Wesen jetzt deutlich erkennen: Es hatte einen bleichen, fast komplett weißen Schädel, der von keinerlei Haut mehr bedeckt war. Trotzdem wuchsen schneeweiße Haare aus ihm heraus. Der restliche Körper war von hellem Stoff bedeckt, der vielleicht einmal ein weißes Kleid oder ein Kimono gewesen sein könnte.

Dann merkte ich, wie mein Atemreflex einsetzte. So sehr ich es auch versuchte, ich konnte ihn nicht mehr unterdrücken. Meine Lungen füllten sich mit Wasser. Ich versuchte, zu husten, doch es brachte nichts. Der Schmerz war unerträglich. Meine Arme und Beine wurden schwach. Ich hörte auf, mich zu wehren.

Als mein Kopf schließlich zur Seite kippte, sah ich ein vertrautes Gesicht. Die Augen weit offen, der Mund zu einem stummen Schrei verzerrt … Tobias.

Die Legende:

Kyōkotsu (zu deutsch etwa „Rage; Gewalt; Raserei“ oder auch „verrückte Knochen“) sind eine Art Geist oder Wiedergänger, der an einen Brunnen gebunden ist.

Sie zählen zu den Yōkai.

Aussehen:

Kyōkotsu bestehen nur noch aus Knochen und Haaren.

Ihr Schädel wird als gebleicht beschrieben. Ihre weißen Haare sollen noch an ihm hängen oder aus ihm herauswachsen.

Zudem tragen sie einen weißen Begräbniskimono, der meist modrig und leicht zerfetzt ist.

Eigenschaften:

Kyōkotsu entstehen, wenn eine Leiche in einem Brunnen landet. Dass die Person kein vernünftiges Begräbnis bekommen hat, soll ausreichen, damit sie nach dem Tod keine Ruhe finden kann.

Dabei ist es egal, ob sich jemand selbst ertränkt hat, es ein Unfall war oder die Person erst nach ihrem Tod in den Brunnen geworfen wurde.

Die Knochen bleiben solange ruhig liegen, bis sie aufgewühlt werden (z.B., indem jemand Wasser aus dem Brunnen holt oder etwas hineinwirft). Dann soll der Kyōkotsu aus dem Brunnen steigen und jeden Menschen verfluchen, der sich in der Nähe befindet.

Lebensraum/Vorkommen:

Kyōkotsu sind an den Brunnen gebunden, in denen ihre Überreste liegen. Daher können sie nur in Brunnen und in ihrer unmittelbaren Nähe vorkommen.

Ursprung:

Die Legende der Kyōkotsu entstand in der Edo-Periode (1603-1868).

Damals würde das Buch „Konjaku hyakki shūi“ (das dritte Buch einer Reihe) von Toriyama Sekien veröffentlicht. Es heißt, dass Toriyama Sekien einen Folgeband zu den beiden vorherigen Büchern schreiben sollte, ihm jedoch die Yōkai ausgegangen waren, von denen er berichten konnte. Daher erfand er seine eigenen.

Kyōkotsu ist einer dieser Yōkai. Sekien behauptete zwar, dass der Yōkai der Ursprung für das Wort Kyōkotsu („Rage, Gewalt, Raserei“ oder „verrückte Knochen“) sei, viel wahrscheinlicher ist es jedoch, dass er sich den Yōkai auf Grundlage des Wortes ausgedacht hat.

Eine weitere Grundlage für Kyōkotsu war wahrscheinlich, dass in der japanischen Folklore Wasser häufig als Kanal zu der Welt der Toten gesehen wurde und die Böden von Brunnen angeblich eine direkte Verbindung seien.


Was haltet ihr von den Kyōkotsu? Findet ihr solche weniger bekannten Legenden auch interessant oder interessieren euch eher die größeren? Schreibt mir gerne einen Kommentar!

Wenn ihr mehr solche Geschichten oder Legenden lesen wollt, abonniert auch gerne meinen Newsletter, oder folgt mir auf Twitter, Facebook oder Instagram!

6 Kommentare

  1. Monika schreibt:

    Wieder eine schön gruselige Geschichte. Bei deiner Beschreibung, wie die Mutter zum Brunnen gezogen wurde, fieberte und leidete ich richtig mit. Wenn ich also jemals ein Grundstück kaufe, auf dem bereits ein Brunnen steht, lasse ich ihn entweder gründlich untersuchen und alles entfernen, was dort nicht hingehört oder reiße ihn gleich ab.^^°

    Zu den Fragen:
    ~Was haltet ihr von den Kyōkotsu? Findet ihr solche weniger bekannten Legenden auch interessant oder interessieren euch eher die größeren?
    Gruselige Dinger. Muss ich nicht unbedingt in meinem Garten haben. 😀
    Die Legende kannte ich bis jetzt nicht, gefällt mir aber sehr gut. Bei mir kommt es aber auch nicht darauf an, wie bekannt oder verbreitet eine Legende ist, damit sie mir gefällt.^^

    Liebe Grüße
    Monika

    • Jeremie Michels schreibt:

      Danke, sowas lese ich doch gerne. 😀
      Aber das wäre auch ein interessantes Szenario, wenn die Leute, die den Brunnen untersuchen oder reinigen wollen, plötzlich alle in den Brunnen gezerrt werden. Vielleicht etwas viel Action und nicht ganz meine Art von Horror, aber auch sehr interessant. ^^

      Gruselige Dinger. Muss ich nicht unbedingt in meinem Garten haben. 😀
      Selbst, wenn man davon wüsste, bin ich mir unsicher, was man dann machen soll. Den Brunnen zuschütten? Aber was wäre, wenn man ihn/sie dadurch ebenfalls wütend macht? D:

      Die Legende kannte ich bis jetzt nicht, gefällt mir aber sehr gut. Bei mir kommt es aber auch nicht darauf an, wie bekannt oder verbreitet eine Legende ist, damit sie mir gefällt.^^
      Dann geht es dir wie mir. Manchmal finde ich solche Legenden sogar besonders interessant, weil man sie eben nicht schon wer-weiß-wie-oft gehört hat. ^^

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert